Der Engel des Alleinseins

Viele Menschen haben heute Angst vor dem Alleinsein. Sie fühlen sich nicht, wenn sie allein sind. Sie brauchen ständig andere Menschen um sich, um sich überhaupt am Leben zu fühlen. Aber das Alleinsein kann auch ein Segen sein. Ohne Alleinsein gibt es keine wirkliche Gottesbeziehung und keine ehrliche Selbsterkenntnis. Viele verwechseln Alleinsein mit Alleingelassenwerden, mit Vereinsamung und Isolierung. Doch Alleinsein gehört wesentlich zu jedem spirituellen Weg. Alle großen Religionsstifter haben diese Wüstenerfahrung des Rückzugs von den anderen gemacht. Auch Jesus ist den Weg des Alleinseins gegangen, als er 40 Tage in der Wüste gefastet hat. Da hat er sich mit seiner eigenen Wahrheit konfrontiert, und er hat Gott, seinen Vater, auf neue Weise gefunden.

So wünsche ich Dir den Engel des Alleinseins, dass er Dich in eine fruchtbare Einsamkeit hineinführt, in die Einsamkeit, in der Du Dich so erkennst, wie Du wirklich bist, in der Du Dich nicht interessant machen kannst, sondern mit Deiner Nacktheit konfrontiert wirst. Wenn Du den Mut findest, allein zu sein, kannst Du auch entdecken, wie schön es sein kann, einmal ganz für sich zu sein, nichts vorweisen, nichts beweisen, sich nicht rechtfertigen zu müssen. Da kannst Du vielleicht die Erfahrung machen, dass Du ganz und gar mit Dir eins bist. Das steckt ja in dem Wort Alleinsein = all eins sein und zwar in dreifacher Bedeutung: 1. mit Dir ganz eins sein. Die Sehnsucht nach Einheit war schon für die Griechen typisch. Sie fühlten sich zerrissen zwischen den verschiedenen Wünschen und Bedürfnissen. Wir verstehen heute diese Sehnsucht nach Einheit wieder neu. Denn auch wir fühlen uns angesichts der Pluralität des Daseins hin- und hergezerrt zwischen den verschiedensten Angeboten, zwischen den verschiedensten eigenen Strebungen. Wie finde ich bei dem vielen, das ich in mir entdecke, zu meiner Einheit, zu der Klammer, die alles miteinander verbindet?

Die zweite Bedeutung des Alleinseins zielt auf alle Menschen. Es meint, mit allem und allen eins zu sein, sich in seiner Tiefe mit allen Menschen solidarisch und eins zu fühlen. Je mehr ich mich meiner eigenen Einsamkeit stelle, desto tiefer fühle ich mich mit den Menschen um mich herum verbunden. Das haben die frühen Mönche erfahren, die bewusst in die Einsamkeit gegangen sind. Sie haben sich zurückgezogen von den Menschen, um auf einer tieferen Ebene mit ihnen eins zu werden. So formuliert es Evagrius Ponticus, der wohl wichtigste Mönchsschriftsteller: "Ein Mönch ist ein Mensch, der sich von allem getrennt hat und sich doch mit allem verbunden fühlt. Ein Mönch weiß sich eins mit allen Menschen, denn immerzu findet er sich in jedem Menschen." In meiner Einsamkeit entdecke ich meinen eigenen Grund. Und in diesem Grund bin ich tief verbunden mit allen Menschen. Da spüre ich, dass mir nichts Menschliches fremd ist, dass ich im Innersten mit allen Menschen zusammenhänge.

Die dritte Bedeutung des Alleinseins hat mit dem All zu tun. Von Friedrich Nietzsche stammt das Wort: "Wer die letzte Einsamkeit kennt, kennt die letzten Dinge." Im Alleinsein erahne ich, dass ich mit allem, mit dem Letzten, mit dem Urgrund allen Seins eins werde. Und diese Erfahrung des Alleinseins gehört wesentlich zum Menschen. Nicht umsonst sagt daher Dostojewski: "Zeitweilige Einsamkeit ist für einen normalen Menschen notwendiger als Essen und Trinken." In der Einsamkeit spüre ich, was mein Menschsein eigentlich ausmacht, dass ich an allem teilhabe, am All der Schöpfung, letztlich an dem, der alles in allem ist. Wenn Dich der Engel des Alleinseins in diese grundlegende Erfahrung Deines Menschseins hineinführt, dann schwindet in Dir alle Angst vor Einsamkeit und Alleingelassenwerden. Denn Du spürst, dass Du dort, wo Du allein bist, mit allem eins bist. Dann erfährst Du Dein Alleinsein nicht als Vereinsamung, sondern als Heimat, als Daheimsein. Daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt. Wo Dich der Engel des Alleinseins einführt in das letzte Geheimnis, das unsere Welt durchwaltet, da bist Du niemals einsam, da bist Du wahrhaft daheim. Dieses Geheimnis, das alles umfasst, schenkt Dir eine Heimat, die Dir kein Mensch mehr rauben kann.