DER ENGEL DER ACHTSAMKEIT
Der Engel der Achtsamkeit ist verwandt mit dem Engel der Langsamkeit. Achtsamkeit ist heute ein beliebtes Wort spiritueller Autoren. Vor allem der buddhistische Mönch aus Vietnam, Thich Nhat Hanh, spricht immer wieder von der Achtsamkeit, von der Kunst, achtsam zu leben. Für ihn besteht darin die ganze Weisheit des Buddhismus, in jede einzelne alltägliche Verrichtung die Energie der Achtsamkeit fließen zu lassen. Schon als junger Mönch lernte er, alles im Alltag mit Achtsamkeit zu tun. Seine ganze Askese und sein tägliches Training bestand darin, bei allem achtsam zu sein, beim Atmen, beim Gehen, beim Spülen, beim Händewaschen. Bei jedem Händewaschen sprach er: „Wasser fließt über diese Hände. Ich will es sorgsam gebrauchen, um unseren kostbaren Planeten zu erhalten.“
Achtsamkeit kommt von achten, beachten, hochachten, aufmerksam bei etwas sein. Und es hat zu tun mit Erwachen. Wer achtsam auf seinen Atem achtet, wer achtsam seine Schritte lenkt, wer achtsam den Löffel in die Hand nimmt, wer ganz bei dem ist, was er gerade tut, der wacht auf. Buddha heißt ja der Erwachte. Und er meint, viele von uns würden nur im Schlaf dahinleben. Sie merken gar nicht, was sie tun. Sie haben sich Illusionen gemacht über ihr Leben. Aber sie sind nicht in Berührung mit dem wirklichen Leben. Die Achtsamkeit möchte uns in Kontakt bringen mit den Dingen, mit den Menschen. Ein Zen-Mönch wurde einmal gefragt, was er denn für eine Meditationspraxis habe. Er antwortete: „Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.“ Da meinte der Frager: „Das ist doch nichts Besonderes. Das tun wir doch alle.“ Da sagte der Mönch: „Nein, wenn Du sitzt, dann stehst Du schon. Und wenn Du stehst, dann bist Du schon auf dem Weg.“
Darin besteht die Übung der Meditation, einfach auf das zu achten, was ich gerade tue. Dann merke ich, wie die Achtsamkeit eine spirituelle Kraft ist, die meinem Leben eine neue Würze gibt. Da habe ich das Gefühl, dass ich selber lebe, anstatt gelebt zu werden. Und ich spüre, dass das Leben ein Geheimnis ist, voller Tiefe, voller Lebendigkeit, voller Freude.
Achtsamkeit hat mit Hochachtung, mit Wertschätzung zu tun. Ich gehe achtsam um mit meinem Atem, weil ich darin den Atem Gottes spüre, der mich mit Leben erfüllt, der meinen ganzen Leib durchdringt mit seiner heilenden Wärme. Ich nehme mein Handwerkszeug achtsam in die Hand, weil ich darin die Mühe des Menschen sehe, der es geformt hat. Ich gehe achtsam mit den Blumen in meinem Zimmer um, weil ich darin das Geheimnis der Schöpfung und den Schöpfer selber berühre.
Achtsamkeit ist nicht nur für die Zen-Mönche, sondern auch für die westlichen Mönche das Kennzeichen eines spirituellen Menschen. Auch der heilige Benedikt fordert seine Mönche auf, sorgfältig und achtsam mit dem Werkzeug des Klosters umzugehen. Da ist alles kostbar, alles ist heiliges Altargerät. Aber auch wir Mönche vergessen oft die Achtsamkeit. Auch wir gehen oft recht unbewusst mit unsern Büchern, mit dem Essgeschirr, mit dem Werkzeug um. Und auch wir schlagen die Türe oft unbewusst zu. So brauchen wir wohl alle in unserer täglichen Unachtsamkeit und Unbewusstheit den Engel der Achtsamkeit, der uns immer wieder anrührt, uns aus dem Schlaf weckt und uns darauf aufmerksam macht, ganz im Augenblick zu sein, achtsam umzugehen mit dem, was wir gerade tun.
Achtsamkeit in allem Tun, das gibt meinem Leben einen zarten Hauch. Da bin ich ganz gegenwärtig, ganz eins mit mir und den Dingen. Aber diese Achtsamkeit ist uns nicht einfach geschenkt. Sie muss täglich geübt werden. Aber sie wird zum Gradmesser meiner Spiritualität. Ich kann noch so fromme Worte machen oder noch so schöne spirituelle Vorträge halten, wenn die Achtsamkeit fehlt, ist alles Schall und Rauch. Ich wünsche Dir, dass Dich der Engel der Achtsamkeit immer tiefer in die Kunst des Lebens einführt, damit Du die Lust am Leben entdeckst und alles mit Aufmerksamkeit und Hochachtung tust, weil alles wertvoll, weil alles von Gott wunderbar geschaffen und von Seinem Geist beseelt ist.