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Inhalt Seite
Präamble
der Anonymen Alkoholiker 4
Glaube
Gott, wie wir ihn verstehen 5
Furcht 13
Ehrlichkeit 22
Demut
für den heutigen Tag 33
Liebe
Die nächste Front in unserem Kampf ist die
Nüchternheit in unserem Gefühlsleben 44
Warum
die Gemeinschaft der A.A. anonym ist 51
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Präambel
Anonyme Alkoholiker sind eine Gemeinschaft von Männern und
Frauen, die miteinander ihre Erfahrung Kraft und Hoffnung teilen,
um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung
vom Alkoholismus zu verhelfen.
Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch mit
dem Trinken aufzuhören.
Die Gemeinschaft A.A. ist mit keiner Sekte, Konfession, Partei,
Organisation oder Institution verbunden; sie will sich weder an
öffentlichen Debatten beteiligen, noch zu irgendwelchen
Streifragen Stellung nehmen.
Unser Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben und anderen
Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen.
Copyright ©: Anonyme Alkoholiker
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Glaube
„Gott, wie wir Ihn verstehen“
Der Satz Gott, wie wir Ihn verstehen“ ist vielleicht der wichtigste,
den wir im Wortschatz der A.A. finden können. Diese fünf
bedeutungsvollen Worte schließen jede Richtung und jeden Grad
von Glauben ein und geben die positiven Zusicherung, dass jeder
von uns sich seinen eigenen Glauben auswählen kann. Kaum
weniger wertvoll sind für uns die diesen Satz ergänzenden Begriffe
eine Höhere Macht“ und eine Macht, die grösser ist als wir
selbst“. Für alle, die eine Gottheit leugnen oder ernstlich an ihr
zweifeln, bildet dieser Rahmen eine offene Tür, über deren
Schwele auch der Glaubenslose leicht seinen ersten Schritt in eine
Wirklichkeit tun kann, die ihm bisher verschlossen war: In den
Bereich des Glaubens.
Solche Durchbrüche sind bei den A.A. tagtägliche Ereignisse. Sie
sind umso bemerkenswerter, je mehr wir darüber nachdenken,
dass für etwa die Hälfte der Angehörigen unserer Gemeinschaft ein
wirksamer Glaube eine Unmöglichkeit allerersten Ranges zu sein
schien. Alle diese Zweifler haben in dem Augenblick, in dem sie
bereit waren, eine Höhere Macht“ voll anzuerkennen (selbst
wenn sie darunter nur ihre Gruppe verstanden), die große
Entdeckung gemacht, dass sie aus jenem toten Winkel
herauskamen, der ihnen bis dahin den Blick auf die offene Straße
zur Nüchternheit verdeckt hatte. Von diesem Augenblick an
vertiefte sich ihr Glauben wie ein Geschenk, in einer unerwarteten
und oft geheimnisvollen
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Weise. Vorausgesetzt, sie versuchten nun, aufgeschlossen, offen
und ehrlich das A.A.-Programm zu praktizieren und in ihnen zu
leben.
Wir bedauern sehr, dass diese Tatsachen des A.A.-Lebens von den
Alkoholikern in der Welt um uns herum nicht verstanden werden.
Eine Unzahl von ihnen ist von der Überzeugung besessen, unter
Druck gesetzt zu werden und sich zu einer besonderen Art von
Glauben oder Theologie bekennen zu müssen, sobald sie auch nur
in die Nähe der A.A. kommen. Sie können einfach nicht begreifen,
dass für jemand, der zu dieser Gemeinschaft gehören will, der
Glaube nie eine notwendige Voraussetzung ist, dass Nüchternheit
mit einem leicht annehmbaren Mindestmaß an Gauben erlangt
werden kann – und dass unsere Vorstellungen von einer „ Höheren
Macht“ oder von Gott, wie wir Ihn verstehen“ jedem viele
Möglichkeiten für einen geistigen( spirituellen) Glauben bieten und
es ihm überlassen, wie er diesen Glauben in seinem Leben
verwirklichen will.
Es ist eines unserer drängendsten Problem, wie wir diese“ frohe
Botschaft“ weiten Kreisen bekannt machen können. Wir haben
dafür noch keine befriedigende und umfassende Lösung gefunden.
Vielleicht sollten wir immer wieder in unseren öffentlichen
Informationen auf diesen wichtigen Gesichtspunkt der A.A.
hinweisen. Wir sollten aber auch in unseren eigenen Reihen mehr
Verständnis für die akute Notlage aufbringen, in der sich diese
isolierten und verzweifelten Leidenden befinden. Mit den besten
Kräften du mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, müssen
wir versuchen, ihnen zu helfen.
Wir müssen auch das Problem der Glaubenslosigkeit, das ja
unmittelbar vor unserer Türschwelle existiert, mit neuen und
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unbefangenen Blicken betrachten. Obwohl über 350.000 innerhalb
der letzten dreißig Jahre * genesen sind, waren in dergleichen Zeit
etwa eine halbe Million Hilfesuchender in unserer Mitte und sind
wieder gegangen. Ohne Zweifel waren manche von ihnen zu krank,
um aus eigener Kraft einen neuen Anfang machen zu können.
Andere konnten oder wollten ihre Krankheit nicht zugeben. Wieder
anderen war es nicht möglich, sich mit ihren grundlegenden
Persönlichkeit-Defekten auseinanderzusetzen. Viele gingen aus
unbekannten Gründen wieder von uns.
Trotzdem können wir uns nicht zufrieden geben, dass bei jeder
dieser nicht erfolgten Genesung der Neuling allein die Schuld trägt.
Vielleicht erhielten viele von ihnen nicht die richtige Art und das
nötige Maß an Sponsorenschaft, das sie bitter nötig hatten.
Vielleicht hat unsere Gemeinschaft sie auch nicht mit der nötigen
Wärme und Herzlichkeit aufgenommen, die wir Neuen gegenüber
immer zeigen sollten. Wir A.A. sind es also gewesen, die hier
versagt haben. Vielleicht vermeiden wir auch öfter als wir denken
einen wirklichen und tieferen Kontakt mit solchen Alkoholikern, die
unter dem Dilemma ihrer Glaubenslosigkeit leiden.
Zweifellos ist niemand empfindlicher gegenüber geistiger
Selbstsicherheit, religiöser Hochmut und aggressivem
frömmelnden Verhalten als die Glaubenslosen. Ich bin sicher: Das
ist es , was man bei uns zu oft vergisst. In meinen ersten A.A.-
Jahren habe ich das ganze Unternehmen nahezu völlig durch die
Art meiner mir unbewussten Anmaßung ruiniert. Ich meinte „ Gott,
so wie ich Ihn verstehe“ musste auch von jedem anderen so
verstanden werden. Manchmal war meine aggressive Haltung von
feiner Art, manchmal aber auch grob.
* das war 1965
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Beide Arten zerstörten bei zahllosen Glaubenslosen viel, hatten
möglicherweise verhängnisvolle Folgen. Natürlich war dieses
Verhalten nicht nur auf die Arbeit im Zwölften Schritt beschränkt.
Es kann sich leicht in alle Beziehungen zu anderen einschleichen.
Selbst heute erwische ich mich immer noch dabei, dass ich
Schranken errichte, wenn ich jenen alten Refrain verwende:
Handle so wie ich – und glaube so wie ich…….sonst….!“
Hier ist ein Beispiel aus neuerer Zeit, wie teuer der geistige
Hochmut zu stehen kommen kann: Ein sehr hartnäckiger Neuling
wurde zu seinem ersten A.A.- Meeting mitgenommen. Der erste
Sprecher erzählte aus seinem eigenen Trinkerleben, und der Neue
schien davon beeindruckt zu sein.
Die nächsten beiden Sprecher, die eigentlich Vorträge hielten,
wählten in ihren Reden beide das Thema Gott, wie ich Ihn
verstehe“. Auch das hätte sehr gut sein können; hier aber war es
ganz und gar nicht der Fall. Das Störende lag in ihrer Haltung und in
der Art, wie sie ihre eigenen Erfahrungen darstellten. Sie rochen
geradezu nach arroganter Anmaßung. Der letzte Sprecher ging bei
einigen seiner theologischen Überzeugungen völlig in die Irre. Die
beiden waren eine getreue Wiederholung jener Aufführung, die ich
mir selbst vor Jahren geleistet hatte. Zwar nicht hundertprozentig,
aber in allem, was sie sagten, war doch dieser verhängnisvolle
Gedanke enthalten:
Leute, hört auf uns! Wir besitzen die einzig wahre Art der A.A…..-
und es wäre gut für euch, wenn ihr sie annehmen würdet!“
Damit, sagte der Neue, wolle er nichts zu tun haben. Und er blieb
bei einer Meinung. Sein Sponsor versuchte ihn zu überzeugen, dass
das nicht die wahre Art der A.A. sei. Aber es war
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zu spät. Niemand konnte damals mehr an ihn herankommen. Nun
hatte er auch für jeden weiteren Rausch eine erstklassige Ausrede.
Als wir zuletzt von ihm hörten, schien es nicht mehr lange zu
dauern, bis die Leichenbestatter sich seiner annehmen würden.
Heute erlebt man glücklicherweise diese krasse, aggressive Haltung
nicht mehr oft, wenn jemand von seiner spirituellen Überzeugung
redet. Wir können aber bei diesem, eben geschilderten peinlichen
und ungewöhnlichen Vorkommnis auch eine gute Seite sehen. Wir
können uns fragen, ob nicht auch wir, vielleicht in einer weniger
offensichtlichen aber dennoch zerstörenden Art, viel öfter solchen
Anfällen geistigen Hochmuts erliegen, als wir vermutet haben.
Wenn man dauernd daran arbeitet, könnte sicher keine Art von
Selbst-Erforschung nutzbringender sein als diese und nichts
könnte mehr unsere Gemeinschaft untereinander und mit Gott
verbinden.
Vor vielen Jahren brachte mich ein sogenannter Glaubensloser
dazu, das klar zu erkennen. Er war Arzt und ein sehr feiner Mensch.
Ich traf ihn und seine Frau Mary im Hause eines Freundes in einer
Stadt im mittleren Westen. Es war ein rein gesellschaftlicher
Abend. Unsere Gemeinschaft der Alkoholiker war mein einziges
Gesprächsthema und ich riss die Unterhaltung ziemlich stark an
mich. Trotzdem schienen der Arzt und seine Frau sehr interessiert
zu sein und richteten viele Fragen an mich. Eine davon jedoch
erweckte in mir den Verdacht, dass er ein Glaubensloser, vielleicht
sogar ein Atheist war.
Das brachte mich sofort auf Draht – und ich begann, ihn gleich dort
zu bekehren. Todernst prahlte ich mit meiner großartigen
spirituellen Erfahrung vom Jahr vorher. Der Arzt
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wandte vorsichtig ein, ob jene Erfahrung nicht vielleicht auch
etwas anderes sein konnte als das, wofür ich es hielt. Das traf mich
hart und ich wurde nun richtig grob. Es war gar keine wirkliche
Herausforderung gewesen. Der Arzt war gleichmäßig höflich, voller
Humor und sogar respektvoll. Er sagte sogar ganz ernsthaft, er
habe oft gewünscht, auch einen festen Glauben zu besitzen. Es
war aber ganz klar, dass ich ihn in keiner Beziehung überzeugt
hatte.
Drei Jahre später besuchte ich wieder meinen Freund im
Mittelwesten. Mary, die Frau des Arztes, kam zu einem kurzen
Besuch. Dabei erfuhr ich, dass ihr Mann in der vorhergehenden
Woche gestorben war. Tief bewegt erzählte sie von ihm.
Er stammte aus einer bekannten Familie in Boston und hatte sein
Studium an der Harvard-Universität absolviert. Da er ein brillanter
Student war, hätte er es in seinem Beruf zu Ruhm und Ansehen
bringen können. Er hätte sich einer reichen Praxis erfreuen und das
gesellschaftliche Leben unter seinen alten Freunden genießen
können. Stattdessen hatte er darauf bestanden, Betriebsarzt in
einem Unternehmen in einer von Wirtschaftskämpfen zerrissenen
Industriestadt zu sein. Als Mary ihn einmal fragte, warum er nicht
wieder nach Boston zurückkehre, nahm er ihre Hand und sagte:
Vielleicht hast du Recht, aber ich kann es nicht über mich bringen,
von hier fort zu gehen. Ich meine, die Menschen hier im Betrieb
brauchen mich wirklich.“
Mary erwähnte dann, bei ihrem Mann nie erlebt zu haben, dass er
sich ernstlich über etwas beklagte oder irgendjemand in scharfer
Formkritisierte. Obwohl er völlig gesund zu sein schien, war es
doch mit ihm in den letzten Jahren langsam bergab gegangen.
Wenn Mary ihn drängte, abends auszugehen,
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oder wenn sie ihn rechtzeitig in seine Praxis schicken wollte, kam
er immer mit einer einleuchtenden, gutgelaunten Entschuldigung.
Erst als seine letzte Krankheit plötzlich ausbrach, erfuhr sie, dass es
jeden Augenblick mit ihm zu Ende sein konnte. Außer einem
einzigen Arzt in seinem Kollegium wusste niemand, in welch
schlechten Zustand sein Herz schon die ganze Zeit gewesen war.
Als sie ihn deswegen tadelte, sagte er einfach: „ Nun ja, ich konnte
wirklich nichts Gutes daran sehen, anderen Menschen
meinetwegen Kummer zu machen – am allerwenigsten dir.“
Das war die Geschichte eines Mannes von hohem spirituellem
Wert. Die Merkmale waren deutlich zu sehen; Humor und Geduld,
Güte und Mut, Demut und Hingabe, Selbstlosigkeit und Liebe… ein
Vorbild, was ich nie auch nur annähernd erreichen konnte. Das war
der Mann, den ich getadelt und den ich herablassend zu behandeln
versucht hatte. Das war der Glaubenslose, den zu belehren ich mir
angemaßt hatte.
Vor mehr als zwanzig Jahren erzählte uns Mary diese Geschichte.
Damals wurde mir zum ersten Mal schlagartig klar, wie tot ein
Glaube sein kann, wenn ihm die Verantwortlichkeit fehlt. Der Arzt
hatte einen nie schwankenden Glauben an seine Ideale. Er lebte
Demut, Weisheit und Verantwortlichkeit vor und war ein
hervorragendes lebendiges Vorbild.
Mein eigenes geistiges Erwachen hatte mir einen fest fundierten
Glauben an Gott geschenkt – ein wirklich großes Geschenk. Ich war
aber weder demütig noch weise gewesen. Ich hatte mit meinem
Glauben geprahlt und meine Ideale vergessen. Hochmut und
Unverantwortlichkeit hatten ihren Platz eingenommen. Da ich so
meinem eigenen Glauben
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und mir selbst im Wege stand, konnte ich auch meinen Mit-
Alkoholikern wenig bieten. Für sie musste mein Glaube etwas
Totes sein. Jetzt sah ich endlich ein, warum so viele weggegangen
waren. Manche für immer.
Für uns ist also der Glaube mehr als nur unser größtes Geschenk.
Unsere Verantwortung liegt darin, dass wir ihn mit den anderen
teilen. Darum sollten wir A.A. ständig nach Weisheit und
Bereitwilligkeit suchen, um dieses große Vertrauensgeschenk, das
der Geber aller guten Gaben in unsere Hand legte, an andere
weitergeben zu können. Hier wollen wir nur jene geistigen und
seelischen Grundsätze und Hilfsquellen nennen, mit deren Hilfe wir
der Furcht in jeder Art, wie sie sich zeigt, ins Auge schauen und mit
ihr fertig werden können.
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Furcht
Es ist so, wie es im Blauen Buchsteht; Die Furcht ist ein übler,
zerstörender Faden; das ganze Gewebe unseres Lebens ist damit
durchschossen.“ Die Furcht steht wie eine Wand vor der Vernunft
und vor der Liebe; immer wieder gibt sie dem Ärger, der Prahlerei
und der aggressiven Haltung neue Nahrung. Sie liegt dem
weinerlichen Schuldgefühl und der lähmenden Depression
zugrunde. Präsident Roosevelt machte einmal die bedeutungsvolle
Bemerkung: „ Wir sollten uns vor nichts fürchten als vor der Furcht
selbst.“
Das ist eine harte Behauptung; vielleicht verallgemeinert sie auch
zu stark. Trotz der Tatsache, dass die Furcht im Allgemeinen eine
zerstörerische Gewalt ist, kann sie aber auch nach unserer
Erfahrung Ausgangspunkt für bessere Dinge sein. Furcht kann sich
als Triebkraft für Klugheit erweisen und zu einem anständigen
Respekt vor anderen Menschen führen. Sie kann uns ebenso den
Weg zur Gerechtigkeit wie den Hass zeigen. Je mehr Achtung wir
vor anderen haben, desto mehr gewinnen wir auch an Liebe, die
uns viel ertragen lässt und die man immer wieder großzügig
verschenken kann. Die Furcht braucht also nicht unbedingt nur
etwas Zerstörendes zu sein, da die Lehren, die wir aus ihren Folgen
ziehen, uns zu positivem Denken und Handeln führen können.
Wir müssen uns ein ganzes Leben lang bemühen, frei von Furcht zu
werden – und werden nie zu einem abschließenden
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Ende kommen. Wenn wir uns einem schweren Angriff gegen-
übersehen, unter einer akuten Krankheit leiden oder uns in einer
ernsten und unsicheren Lage befinden, werden wir, auf gute oder
schlechte Weise, wie es gerade kommt, mit Furcht reagieren. Nur
die Großsprecher behaupten, völlig frei von Furcht zu sein, obwohl
gerade bei ihnen die wirklichen Wurzeln für ihre Angeberei in
jenen Befürchtungen liegen, die sie vorübergehend verdrängt
haben.
Darum sehen wir das Problem, die Furcht überwinden zu können,
unter zwei Gesichtspunkten. Wir sollten uns darum bemühen, so
frei wie möglich zu werden. Wir sollten aber auch den Mut und
eine elegante und wendige Art finden, um die Ängste, die dann
noch in uns übrig bleiben, in einer konstruktiven Weise zu ändern.
Das ist nur der erste Schritt, um unsere eigenen Furcht-
erscheinungen und die anderer Menschen verstehen zu lernen. Die
wesentlich schwierigere Frage ist, wie gehen wir weiter und wohin.
Seit dem Entstehen der Gemeinschaft der A.A. habe ich tausende
meiner Freunde beobachtet, die ihre eigenen Erscheinungen von
Furcht immer besser zu verstehen und sie immer mehr zu
überwinden vermochten. Diese Beispiele haben für mich eine nie
versagende Hilfe und eine Erkenntnis bedeutet. Vielleicht ist es
darum auch angebracht, über meine eigenen Erfahrungen mit der
Furcht zu berichten und die Art zu schildern, wie ich sie bis zu
einem ermutigenden Grad abschütteln konnte.
Als Kind erlitt ich einige ziemlich schwere seelische
Erschütterungen. Unser Familienleben litt unter tief gehenden
Störungen. Dazu war ich körperlich ein linkischer Bursche und auch
sonst irgendwie behindert. Natürlich haben andre Jugendliche in
ihrem Gefühlsleben auch solche Störungen und
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gehen doch unversehrt daraus hervor. Offensichtlich war ich zu
überempfindlich und deshalb sehr verschüchtert. Da ich nicht wie
die anderen Jungen war, entwickelte sich bei mir eine
verständliche Angst, nie im Leben so wie sie sein zu können. Das
brachte mir eine tiefe Depression ein – und da ich mich völlig
zurückzog, geriet ich zwangsläufig in die Selbstisolierung.
Dieses allein durch die Furcht verursachte Elend meiner Kinderzeit
wurde so unerträglich, dass ich in sehr starkem Masse aggressiv
wurde. Da ich meinte, ich würde nie zu den anderen gehören und
mit gelobte, mich nie mit einer Position zweiten Ranges zufrieden
zu geben, wollte ich einfach in allem, was sich unternahm
dominieren: In der Arbeit und beim Spiel. Und weil diese
verlockende „ Formel für ein gutes Leben“ mir immer größeren
Erfolg einbrachte (Erfolg, was ich darunter verstand), fühlte ich
mich überglücklich. Wenn aber gelegentlich ein Unternehmen
schief ging, überfielen mich Ärger und Depressionen, die allein
durch den nächsten Triumph geheilt werden konnten. Darum
bewertete ich sehr früh alles nur nach Sieg oder Niederlage, nach
dem Motto: Alles oder Nichts. Die einzige Befriedigung, die ich
kannte, war die, zu gewinnen.
Das war mein falsches Mittel gegen die Furcht. Dieses Muster
meiner Vorstellung fraß sich nun immer tiefer in mir fest und
verfolgte mich durch meine Schulzeit, im ersten Weltkrieg,
während meines Trinkerlebens, bis hinein in die letzte Stunde
meines vollständigen Zusammenbruchs. Zu jener Zeit kam aus dem
Unglück kein anregender Einfluss mehr. Ich wusste nicht, wovor
ich mehr Angst hatte, am Leben zu bleiben oder zu sterben.
Während meine Art von Furcht eine sehr allgemeine ist, gibt
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es natürlich noch viele anders geartete. Tatsächlich sind die
Erscheinungsformen der Furcht und die Probleme, die daraus
entstehen, so zahlreich und so vielschichtig, dass ich unmöglich in
diesem kurzem Artikel auch nur einige von ihnen eingehend
behandeln könnte.
In meinem Fall ist mein Glaube der Grundstein zur Befreiung von
der Furcht. Trotz aller gegenteiligen Erscheinungen in der Welt, hat
bei mir eine Gewissheit die Überzeugung bestärkt, in einem Weltall
zu leben, das mit einem Sinn erfüllt ist. Für mich ist das der Glaube
an einen Schöpfer, der selbst die All-Macht, die All-Gerechtigkeit
und die All-Liebe ist. Gott hat mich für einen Zweck bestimmt. Er
hat meinem Leben eine Bedeutung und eine Bestimmung gegeben,
damit ich, wenn auch langsam und zögernd, zur Ähnlichkeit mit
IHM und zu SEINEM Ebenbild emporwachsen soll. Bevor ich zu
diesem Glauben kam, lebte ich wie ein Fremder in einer
Weltordnung, die mir oft feindlich und grausam erschien. Sie
konnte mir keine innere Sicherheit geben.
Professor Dr. Carl Jung, einer der drei Begründer der modernen
Tiefenpsychologie, hatte ein tiefes und gut fundiertes Wissen über
dieses große Welt-Dilemma unserer Tage. Er sagte dem Sinne nach
Folgendes: „Jeder Mensch , der das Alter von vierzig Jahren
erreicht und noch keinen Weg zum Verständnis seines Selbst
entdeckt hat wer er ist, an welchem Punkt er steht und wohin er
von da weitergehen wird muss unbedingten in irgend einem
Grade neurotisch werden. Das ist wahr, einerlei ob die Triebe
seiner Jugend nach Sex, materieller Sicherheit und nach einem
Platz in der
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Gesellschaft zur Erfüllung gekommen sind oder nicht.“
Wenn der gütige Doktor sagt er wird neurotisch“, könnte er
ebenso gut auch gesagt haben er wird krank vor Furcht, er wird
furchtsüchtig.“
Gerade aus diesem Grunde legen wir in unserer Gemeinschaft
einen solchen Nachdruck auf die Notwendigkeit, an eine Höhere
Macht zu glauben; mögen wir darunter verstehen was wir wollen.
Wir müssen für uns ein eigenes Leben in der Welt der Gnade und
des Geistes finden. Für die meisten von uns liegt diese Welt in
einer ganz neuen Dimension. Überraschenderweise haben wir
Alkoholiker es aber gar nicht so schwer, unser Streben nach diesem
Bereich des Seins auszurichten und unser Ziel zu erreichen.
Gewöhnlich fängt unser bewusstes Eintreten in diese Welt dann
an, wenn wir aus tiefstem Inneren bekannt haben, dass wir
persönlich machtlos sind, unseren Weg allein weiterzugehen und
Gott um Hilfe angerufen haben was wir auch über Ihn denken
mögen, oder was immer Er sein mag. Das Ergebnis ist die Gabe des
Glaubens und das Bewusstsein einer Höheren Macht. In dem
Masse, wie nun unser Glaube wächst, nimmt auch unsere innere
Sicherheit zu. Die ungeheure, in der Tiefe verborgene Furcht vor
dem Nichts weicht allmählich zurück. Darum glauben wir A.A, dass
unser sicherstes Mittel gegen die Furcht unser geistiges und
seelisches Erwachen ist.
Meine eigene Erleuchtung des Geistes ereignete sich wie ein
elektrischer Schlag und wirkte absolut überzeugend. Mit einem
Mal wurde ich zu einem - wenn auch nur winzig kleinen –Teil eines
Weltalls, welches von Gott mit Liebe und Gerechtigkeit regiert
wurde. Welche Folgen mir meine eigene Willkür, meine
Unwissenheit und die meiner Weggenossen auf Erden gebracht
hatten, diese Wahrheit stand doch trotz
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allem immer noch fest. So stark war die neue, positive Zuversicht
in mir. Sie hat mich nie mehr verlassen. Ich besaß, zumindest für
den Augenblick, das Wissen um das eigentliche Leben: ein Leben,
in dem die Furcht völlig fehlt. Natürlich unterscheidet sich mein mir
gegebener Glaube nicht wesentlich von dem geistigen Erwachen,
wie es seither zahllose A.A. erlebt haben; meine Erfahrung trat nur
plötzlicher ein. Aber diese, auf einen neuen Mittelpunkt bezogene
Struktur meines Daseins, so entscheidend und wichtig sie auch für
mich war, bestimmte doch nur den Anfang eines langen Weges,
den ich nun weg von der Furcht und hin zur Liebe zu gehen hatte.
Die alten, tief eingeätzten Angstgefühle wurden durchaus nicht
sofort und für dauernd ausgelöscht. Sie erschienen immer wieder
und oft in einer beängstigenden Weise.
Da ich eine so seltene und auffallende spirituelle Erfahrung
gemacht hatte, war es weiter nicht überraschen, dass der erste
Abschnitt meines A.A.-Lebens durch ein großes Maß an Stolz und
Krafteinsatz gekennzeichnet war. Mich beherrschte noch sehr stak
das Sterben nach Einfluss und Beifall und der Wunsch, der alleinige
Leiter zu sein. Schlimm war, dass mein Verhalten seine
Rechtfertigung im Namen des guten Werkes finden konnte.
Glücklicherweise folgte auf diese reichlich verrückte Periode
meiner Großmannssucht, die einige Jahre dauerte, eine Kette von
Missgeschicken. Meine Forderungen nach Anerkennung waren
offensichtlich durch die Furcht bestimmt, nicht genug davon zu
bekommen. Sie prallten immer häufiger mit den gleichen
Charakterzügen meiner A.A.-Freunde zusammen. Von da an
entwickelte sich eine Art Konkurrenzkampf, der alle unsere Kräfte
verzehrte. Sie bemühten sich, unsere Gemeinschaft vor mir zu
retten und ich versuchte, sie vor ihrer Herrschaft zu bewahren.
Daraus entstanden natürlich eine
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Menge Ärger, Misstrauen und alle möglichen schrecklichen
Vorfälle. In jener merkwürdigen und – im Rückblick heute – eigent-
lich recht amüsanten Zeit unserer Entwicklung, begannen sehr
viele von uns, immer wieder „ den lieben Gott zu spielen.“ Einige
Jahre hindurch rannten die Kraftprotze der A.A. wie wild um-
einander. Aber aus dieser furchtbaren Lage heraus wurden die
Zwölf Schritte und die Zwölf Traditionen formuliert. Sie waren in
der Hauptsache Grundsätze, dazu bestimmt, da ICH klein zu
machen; dadurch bewirkten sie auch ein Kleiner- werden unseres
Ängste. Von diesen Grundsätzen erhofften wir auch ein
Zusammenhalten in Einheit und wachsender Liebe zueinander
und zu Gott.
Allmählich gelang es uns immer besser, die Fehler des anderen
Freundes ebenso zu akzeptieren wie seine Tugenden. In jener Zeit
prägten wir den überzeugenden und bedeutungsvollen Satz: „Wir
wollen immer das Beste in den andern lieben und nie das
Schlimmste in ihnen fürchten.“
Nachdem wir etwa zehn Jahre lang versucht hatten, diese Art von
Liebe und die das ICH verkleinernden Wirkungen unserer A.A.-
Schritte und A.A.-Traditionen in das Leben unserer Gesellschaft
hinein zu tragen, verschwanden allmählich die schlimmen
Befürchtungen, ob die Gemeinschaft der A.A. am Leben erhalten
werden könnte. Wir praktizierten die Zwölf Schritte und die Zwölf
Traditionen auch in unserem persönlichen Leben und erlangten
dadurch eine unvorstellbare Befreiung von Furcht jeglicher Art,
obwohl wir immer noch mit schweren persönlichen Problemen
belastet waren. Auch wenn die Furcht weiter da war, konnten wir
sie jetzt durchschauen und mit Gottes Hilfe mit ihr fertig werden.
Es gelang uns immer besser, jedes Unheil als von Gott gegeben
hinzunehmen. Und wir konnten jene Art von Mut immer weiter
entwickeln, der viel mehr aus Demut als aus prahlerischer
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Tapferkeit geboren ist. So gelang es uns mehr und mehr uns
selbst, unsere Verhältnisse und unsere Freunde zu akzeptieren. Mit
Gottes Hilfe glaubten wir sogar, jetzt mit Anstand, rde und im
Glauben sterben zu können, da wir ja mit einem Blick auf unsere
A.A wussten: „ Der Vater ist es, der das Werk tut.“
Wir Anonymen Alkoholiker erkennen, dass wir heute in einer Welt
leben, die, wie nie zuvor in ihrer Geschichte, von einer
zerstörerischen Angst gekennzeichnet ist. Wir sehen aber auch in
dieser Welt weite Glaubensbereiche und eine ungeheure
Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. Kein Prophet
kann so vermessen sein und voraussagen, ob die Welt vor einer
Zerstörung steht oder nach Gottes Willen am Anfang der
strahlendesten Epoche, die je von der Menschheit erlebt wurde.
Ich bin sicher, dass wir A.A. diese Weltlage verstehen können. Wir
haben ja in unserer kleinen Welt, jeder in seinem eigenen Leben,
diesen gleichen Zustand einer schrecklichen Ungewissheit erlebt.
Völlig ohne stolz können wir sagen, dass wir keine Angst vor dem
Schicksal der Welt haben, in welche Richtung es auch verlaufen
mag. Denn wir haben die Kraft, ganz tief zu fühlen und zu
sprechen:„ Wir fürchten kein Unheil….Dein Wille geschehe und
nicht der unsrige.“
Die folgende Geschichte ist schon oft erzählt worden; sie verdient
aber, wiederholt zu werden:
An jenem Tag, als über die Vereinigten Staaten das erschütternde
Unheil von Pearl Harbour hereinbrach( die Zerstörung der ganzen
amerikanischen Flotte im Pazifischen Ozean durch die Japaner),
ging ein Freund der A.A, eine der größten geistlichen Gestalten, die
wir wohl je treffen können, durch eine Straße in St. Louis: Unser
Pater Edward
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Dowling vom Jesuitenorden.. Selbst kein Alkoholiker, war er doch
einer der Begründer und die treibende Kraft in der um ihre Existenz
ringenden A.A.-Gruppe in seiner Stadt.
Viele seiner im normalen Leben nüchternen Freunde hatten bereits
zur Flasche gegriffen, um die Angst vor den Auswirkungen des
Unheils von Pearl Harbour zu löschen. Pater Ed war
verständlicherweise in größter Sorge, weil er es für wahrscheinlich
hielt, seine liebe A.A.-Gruppe würde es nun genauso machen. Für
Pater Ed wäre das aber, schon allein für sich, ein Unheil erster
Ordnung gewesen. Da ging ein A.A.-Freund, der weniger als ein
Jahr trocken war, neben ihm her und verwickelte ihn in ein
lebhaftes Gespräch, das in der Hauptsache von den A.A. handelte.
Wie Pater Ed zu seiner großen Erleichterung feststellte, war sein
Begleiter völlig nüchtern. Er äußerte mit keinem Wort seine
Meinung über Pearl Harbour. In frohem Erstaunen darüber fragte
der gute Pater: Wie kommt es, dass du nichts über Pearl Harbour
zu sagen hast? Wie kannst du einen furchtbaren Schlag wie diesen
so glatt parieren?“ Nun ja“, erwiderte der A.A.-Freund, „eig-
entlich bin ich überrascht, dass Sie das nicht wissen. Von uns A.A.
hat doch jeder Einzelne in seinem eigenen privaten Leben sein
Pearl Harbour gehabt. Darum muss ich Sie fragen, warum wir
Alkoholiker denn unter einem Schlag wie diesem zu-
sammenbrechen sollten?“
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Ehrlichkeit
Das Problem der Ehrlichkeit spielt in unserem Leben eine große
Rolle. Da gibt es einmal die weit verbreitete erstaunliche
Erscheinung des Selbstbetrugs. Dann haben wir jene recht
gemeinen Arten des rücksichtslosen den anderen die Wahrheit
sagen‘, die so oft Weisheit und Liebe vermissen lassen. Wir kennen
aber auch jene zahllosen Situationen im Leben, in denen nichts
mehr helfen kann als die reinste Ehrlichkeit, wobei wir uns heuten
sollten, die Wahrheit auf Halbwahrheiten zurechtzustutzen oder
sie sogar in unentschuldbarerer Weise abzustreiten.
Zuerst wollen wir die Folgen des Selbstbetrugs in Hinsicht auf
unsere Ehrlichkeit untersuchen.
Ich erinnere mich noch gut an das wohltuende Selbstgefühl, das ich
einst aus dem übertriebenen Glauben an meine eigene Ehrlichkeit
gewann. Meine Angehörigen in New-England (USA) hatten mich
eine korrekte Abwicklung aller geschäftlichen Verpflichtungen und
Verträge gelehrt. Sie betonten immer: „Das Wort eines Mannes ist
für ihn absolut bindend.“
Auf mich hatte einst die Geschichte von Abraham Lincoln einen
tiefen Eindruck gemacht, wie „ der ehrliche Abe“ einmal sechs
Meilen weit lief, um einer armen Frau sechs Pennies zurück-
zubringen, die er ihr in seinem Lebensmittelgeschäft zuviel
berechnet hatte.
Bei so strengen Grundsätzen war es für mich im Geschäftsleben
immer sehr leicht, ehrlich zu bleiben. Ich blieb es auch immer.
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Selbst in der Wallstreet. Dem Sitz der Börse in New York, wo ich in
späteren Jahren arbeitete, habe ich nie jemanden beschwindelt.
Diese leicht gewonnene Tugend brachte mir und meinem
Charakter einige bemerkenswerte Nachteile. Ich war auf den
hohen Stand meiner Geschäfts- Ehrlichkeit so verrückt stolz, dass
ich mit überheblicher Verachtung auf meine Freunde in der
Wallstreet herabsah, die dazu neigten, ihre Kunden zu
hintergehen. Das war schon arrogant genug. Doch die daraus
folgende Selbsttäuschung hatte noch schlimmere Folgen. Meine
von mir so hoch eingeschätzte Geschäfts-Ehrlichkeit verwandelte
sich nun in einen bequemen Deckmantel, unter dem ich viele
ernste Charakterfehler der anderen Seiten meines Lebens
verbergen konnte. Da ich die eine Tugend sicher besaß, kam ich zu
der leichten Schlussfolgerung, ich hätte alle Tugenden. Das
hinderte mich eine ganze Reihe von Jahren daran, mich selbst
einmal richtig unter die Lupe zu nehmen – und es ist ein ganz
alltägliches Beispiel für die fabelhafte Fähigkeit zum Selbstbetrug,
die fast alle von uns zu Zeiten aufweisen können. Überdies liegt die
Wurzel dafür, dass wir andere Menschen betrügen, fast immer im
Selbstbetrug.
Als weitere Illustration zu diesem Thema tauchen in meiner
Erinnerung noch zwei extreme Fälle auf. Der eine zeigt den
Selbstbetrug in einer sehr handgreiflichen Form r alle
offensichtlich, nur nicht für das Opfer selbst. Den anderen
kennzeichnet eine feinere Art der Selbsttäuschung, von der kaum
ein menschliches Wesen ausgenommen werden kann.
Einer meiner guten A.A.-Freunde, war ein Geldschrankknacker. Er
erzählte mir einmal folgende sehr aufschlussreiche Geschichte:
„Weißt du, Bill, in Gedanken stellte ich mir vor,
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ich sei so etwas wie eine ‚Ein-Mann-Revolution gegen die
Gesellschaft. Überall in der Welt sah ich, wie in den Revolutionen
die ‚Habenichtse‘ den Habenden‘ ihr Geld abnahmen. Das schien
mir sehr vernünftig zu sein. Denn schließlich würden diese
verdammten Besitzenden ihren Reichtum nie mit den Besitzlosen
teilen. Den Revolutionen, die ihnen ihr Vermögen wegnahmen,
zollte man überall mächtigen Applaus. Für Kerle wie mich, die doch
auch die Besitzenden dazu brachten, ihren Reichtum an andere
abzugeben, rührte sich jedoch keine Hand zum Beifall. Nach einer
Weile habe ich mir das so zurecht gelegt: Es war ja eine klare
Sache, dass niemand Einbrecher leibte; Revolutionen hatte man
wohl gern, die Einbrecher aber nicht…. Immerhin konnte ich für
meinen Teil nichts Schlechtes darin sehen, Geldschränke zu
knacken; nur sollte ich mich dabei nicht erwischen lassen. Ich
konnte das selbst nach Jahren im Gefängnis noch nicht anders
sehen. Als aber in meinem Leben die A.A. auftauchten, fing es
langsam in meinem Schädel an zu dämmern, dass es gute und
schlechte Revolutionen gibt. Mir wurde dann immer klarer, wie ich
mich selbst rundherum angeschwindelt hatte. Nun konnte ich
sehen, dass ich reichlich verrückt gewesen war. Wie habe ich denn
nur sooo blöde sein können! Das werde ich mir nie erklären
können.“
Ich habe aber noch einen anderen A.A.-Freund, eine gute, feine
Seele. Unlängst trat er in einen der großen religiösen Orden ein, in
dem die Mönche viele Stunden am Tage mit geistiger Betrachtung
zubringen. Mein Freund hatte also viel Zeit, seine Inventur zu
machen. Je mehr Selbstbetrachtung er nun treibt, desto mehr
unbewussten Selbstbetrug findet er. Desto grösser ist aber ach sein
Erstaunen, wie ausgeklügelt dieser unaufrichtige Mechanismus ist,
der uns durch Ausreden jene Entschuldigungen produzieren lässt,
die wir früher für unsere
25
Rechtfertigung brauchten. Er ist nun zu dem Ergebnis gekommen,
dass die stolze Selbstgerechtigkeit der so genannten guten
Menschen“ oft genauso destruktiv sein kann, wie die
offenkundigen Sünden derer, die man für nicht so gut“ hält.
Darum sieht er täglich in sein Inneres und dann empor zu Gott, um
immer besser den Ort zu entdecken, wo er jetzt mit seiner
Ehrlichkeit steht. Er kommt aus jeder seiner Meditationen mit dem
todsicheren Bewusstsein zurück, dass er immer noch einen sehr
langen Weg bis zum Ziel zu gehen hat.
Die Frage, wie und wann wir die Wahrheit sagen oder überhaupt
besser schweigen sollten, kann uns oft den Unterschied zwischen
echter Aufrichtigkeit und ihrem Gegenteil klar machen. Im
Neunten Schritt des A.A.-Programms werden wir ausdrücklich
davor gewarnt, die Wahrheit zu missbrauchen: „Wir machten bei
diesen Menschen alles wieder gut, wo immer es möglich war, es
sei denn wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.“
Das heißt doch ganz klar, dass wir die Wahrheit eben so gut aus
zum Heilen wie auch zum Verwunden verwenden können. Darum
hat dieser Grundsatz eine so weit reichende Bedeutung, wenn es
um unser Problem geht, die eigene Aufrichtigkeit immer besser zur
Entfaltung zu bringen.
Bei den A.A. reden wir ja sehr viel übereinander. Solange das aus
guten Beweggründen geschieht, schadet es nicht im Geringsten.
Anders ist es mit dem Klatsch, der schädigt. Natürlich wird es
immer einen Grund für ein Geschwätz und seine Verbreitung
geben. Man sollte aber Tatsachen nie in einer Form verdrehen,
dass sie wie aufrichtig gemeint“ aussehen. Niemand kann
behaupten, dass eine so oberflächliche Ehrlichkeit für jemand gut
wäre. Gerade darum ist es für uns notwendig, uns selbst zu prüfen.
Wenn also der Klatsch
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mal wieder um sich greift, sollten wir uns folgende Fragen
vorlegen: Warum haben wir überhaupt etwas gesagt? Haben wir
lediglich versucht, uns geneseitig zu helfen? Haben wir nur wahre
Informationen weitergegeben? Haben wir uns nicht als die
Überlegenen gefühlt, als wir die Sünden andrer bekannten‘?
Vielleicht spielte auch die Furcht eine Rolle? Oder wir mochten den
anderen nicht, wir konnten ihn nicht leiden? Hatten wir nicht doch
im Geheimen die Absicht, lieber uns selbst als unseren Freund zu
prüfen. Hier erkennen wir den Unterschied zwischen der richtigen
Anwendung der Wahrheit und ihrem Missbrauch. Und gerade bei
solchen Gelegenheiten gewinnen wir allmählich unsere Recht-
schaffenheit zurück, die wir verloren hatten.
Manchmal lassen sich jedoch unsere Beweggründe nicht so leicht
bestimmen. Gelegentlich meinen wir, Tatsachen, die schweren
Schaden anrichten, offenbaren zu müssen, um die Machenschaften
gewisser Bösewichte zu verhindern. Unsere Losung lautet dann:
Das geschieht doch alles nur zum Besten der A.A! Was wollt ihr
denn?“
Mit dieser oft falschen Rechtfertigung bewaffnet, verstärken wir in
vollem Bewusstsein unseres Rechts unseren Angriff. Oft ist es
wirklich zwingende Notwendigkeit, in einer Lage, die Schaden
bringt, Ordnung zu schaffen. Und es stimmt auch, dass wir dazu
manche unangenehme Tatsachen verwenden müssen. Die wahre
Prüfung bezieht sich immer darauf, wie wir uns selbst in der Hand
haben. Wir müssen ganz sicher gehen, dass nicht wir jene rußigen
Töpfe sind, die von den anderen Kesseln als schwarz verschrien
werden. Darum ist es weise, uns selbst erstmal folgende Fragen
vorzulegen: Verstehen wir wirklich die Menschen, die in diese
Situation
27
verwickelt sind? Sind wir sicher, alle Tatsachen genau zu kennen?
Ist es wirklich nötig, einzugreifen oder Kritik zu üben? Sind wir
sicher, weder aus Furcht noch aus Ärger zu handeln?“…..Nur wenn
wir uns so gründlichen Untersuchungen unterziehen, können wir
sicher sein, mit jenem sorgfältigen Unterscheidungsvermögen und
in dem liebevollen Geist zu handeln, den wir immer brauchen,
wenn wir uns unsere eigene Rechtschaffenheit bewahren wollen.
Hier ist noch ein weiterer Gesichtspunkt zum Problem der
Ehrlichkeit. Es ist durchaus möglich, die angebliche Unehrlichkeit
anderer Menschen in höchst einleuchtender Weise als Vorwand zu
gebrauchen, um unseren eigenen Verpflichtungen nicht
nachkommen zu müssen. Mir selbst ist ein solcher Fall passiert.
Freunde, die reichlich mit Vorurteilen behaftet waren, hatten mich
beschworen, nie mehr in die Wallstreet zurückzukehren. Sie waren
überzeugt, dass der dort herrschende Materialismus und Betrug
mein geistiges und seelisches Wachsen ersticken würde. Da das so
großartig klang, blieb ich also weiter dem einzigen Geschäft fern,
von dem ich etwas verstand.
Als mein Haushalt dann fast zusammengebrochen war, wachte ich
auf. Ich erkannte, dass ich mich nur hatte drücken wollen, meine
Arbeit wieder aufzunehmen. Also ging ich doch wieder in die
Wallstreet.
Seit der Zeit bin ich immer wieder über diesen Entschluss froh
gewesen. Ich musste entdecken, dass es auch in New Yorks
Finanzzentrum viele feine Leute gibt. Und dann brauchte ich ja
auch die Erfahrung, gerade in jener Umgebung nüchtern bleiben
zu können, in der mich der Alkohol zu Boden geworfen hatte. Ich
empfing alle diese Segnungen Gottes und noch eine ganze Menge
mehr. Wahrhaftig, mein
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widerwilliger Entschluss, zum Geldmarkt zurückzukehren, hat mir
direkt jene riesengroße Dividende eingebracht: die A.A.
Auf einer Wallstreet-Geschäftsreise nach Akron, Ohio, im Jahre
1935, begegnete ich zum ersten Mal Dr. Bob, der mit mir der
Mitbegründer unserer Gemeinschaft werden sollte. So hängt die
Geburt der A.A. in Wirklichkeit mit meinem ernsthaften Versuch
zusammen, wieder die Verantwortung für meinen Broterwerb zu
übernehmen.
Wir müssen nun aber dieses vielseitige und interessante Gebiet
des Selbstbetrugs verlassen, um zu jenen schwierigen
Lebenssituationen zuzuwenden, denen wir uns mutig und mit
klarem Kopf zu stellen haben.
Angenommen, wir bekommen ein Anstellungsformular, in dem die
Frage steht: Haben sie je an Alkoholismus gelitten und sind Sie je
in einer Heilanstalt gewesen?“ Hier können wir A.A. sicher Gutes
über uns berichten. Wir glauben fast ohne Ausnahme, dass in
solchen Situationen nur die absolute Ehrlichkeit helfen kann. Die
meisten Arbeitgeber respektieren unsere Gemeinschaft und
schätzen diese Art unumwundener Ehrlichkeit, besonders wenn
wir auf unsere Zugehörigkeit zu den A.A. und auf die Erfolge
unserer Gemeinschaft hinweisen können.
Natürlich gibt es noch eine Reihe anderer Probleme im Leben, die
die gleiche Aufrichtigkeit erfordern. Meist sind die Situationen, die
von uns eine unbedingte Ehrlichkeit verlangen, klar umrissen und
leicht zu erkennen. Wir müssen ihnen nur ohne Rücksicht auf
unsere Furcht oder unseren Stolz direkt ins Auge sehen. Tun wir
das nicht, werden wir bestimmt unter den immer größer
werdenden Konflikten zu leiden haben, die nur mit offener
Ehrlichkeit zu lösen sind.
29
Trotzdem gibt es gewisse Gelegenheiten, bei denen ein
rücksichtsloses Aussprechen der Wahrheit weit gehende
Zerstörung und dauernden Schaden bei anderen anrichten kann.
Wenn diese Möglichkeit besteht, sind wir sicher in großer
Verlegenheit. Wir werden zwischen zwei Versuchungen hin- und-
hergerissen. Wenn uns unser Gewissen zu sehr quält, kann es
vorkommen, dass wir alle Weisheit und Liebe in den Wind
schlagen. Vielleicht versuchen wir dann, uns unsere innere Freiheit
durch brutale Wahrheit zu erkaufen, ohne Rücksicht darauf, wen
wir und wie sehr wir ihn verletzen. Allerdings sind Versuchungen
dieser Art nicht die Regel. Viel wahrscheinlicher steuern wir auf
das andere Extrem zu: Wir malen uns ein reichliche unrealistisches
Bild von dem schrecklichen Schaden aus, den wir anderen durch
die Wahrheit zufügen würden. Unter dem Vorwand, für unsere
vermeintlichen Opfer großes Mitleid und starke Liebe zu
empfinden, sind wir bereit, die Große Lüge“ zu sagen und uns
dabei noch vollkommen wohl zu fühlen.
Wenn uns das Leben vor einen so aufreibenden Konflikt wie diesen
stellt, kann uns wirklich niemand unserer Verwirrung wegen einen
Vorwurf machen. Es ist aber unsere erste Pflicht, uns
einzugestehen, wirklich durcheinander geraten zu sein. Wir
werden dabei vielleicht zugeben ssen, dass wir zumindest für
den Augenblick nicht fähig waren, Recht und Unrecht voneinander
zu unterscheiden.
Besondere Schwierigkeiten entstehen für uns immer dann, wenn
sich unsere Gebete so stark mit unserem Wunschdenken mischen,
dass wir unsere Unsicherheit eingestehen und uns fragen müssen,
ob wir unter Gottes Führung leben. Das ist dann der Augenblick,
wo wir den Rat unserer besten Freunde suchen ssen und die
gegeben Gelegenheit, sich mit ihnen auszusprechen.
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Wäre ich nicht mit weisen, liebevollen Ratgebern gesegnet
gewesen, hätte ich schon längst meinen Zusammenbruch erlebt.
Ein Arzt rettete mich vom Tod durch den Alkoholismus, weil er
mich zwang, der Tödlichkeit dieser Krankheit gerade in die Augen
zu sehen. Ein anderer Arzt, ein Psychiater, half mir später, mir
meine geistige Gesundheit zu erhalten, weil er mich anregte, einige
meiner tief sitzenden Mängel aufzustöbern. Von einem Geistchen
empfing ich die auf Wahrheit beruhenden Grundsätze, nach denen
wir A.A. jetzt zu leben versuchen. Aber diese hilfreichen Freunde
haben an mir viel mehr getan, als nur ihre beruflichen Fähigkeiten
zur Verfügung zu stellen. Ich lernte, mit jedem meiner Probleme zu
ihnen zu gehen. Ihre Weisheit und ihre Rechtschaffenheit waren
die Belohnung fuer meine Fragen. Viele meiner liebsten A.A.-
Freunde stehen in genau derselben Beziehung zu mir. Oft konnten
sie mir da helfen, wo andere es nicht konnten – aus dem einfachen
Grunde, weil sie Anonyme Alkoholiker waren. Natürlich können wir
uns nicht völlig darauf verlassen, dass unsere Freunde alle unsere
Schwierigkeiten für uns lösen,. Ein guter Ratgeber wird uns das
Denken nicht abnehmen, um es für uns zu tun. Er weiß, dass wir
jede endgültige Entscheidung selbst treffen müssen. Aber er wird
uns dabei helfen, Furcht, Berechnung und Selbstbetrug
auszuschalten, um jene Wahl zu treffen, die liebevoll, weise und
ehrlich ist.
Sich einen solchen Freund zu wählen, ist eine höchst wichtige
Sache. Wir sollten uns dabei nach einem Menschen von tiefem
Verstehen umsehen und sorgfältig auf das ren, was er uns zu
sagen hat. Überdies müssen wir fest davon überzeugt sein, dass
der von uns erwählte Berater unsere Mitteilungen im strengsten
Sinne vertraulich behandeln wird. Handelt es
31
sich um einen Geistlichen, einen Arzt oder um einen Rechtsanwalt,
kann das als selbstverständlich angenommen werden. Wenn wir
aber einen A.A.-Freund zu Rate ziehen, sollten wir, ohne zu zögern,
daran erinnern, dass wir seine volle Verschwiegenheit erwarten
müssen. Bei unserem vertraulichen, freien und ungezwungenen
Umgang untereinander könnte ein Ratgeber aus den Reihen der
Gemeinschaft vielleicht mal vergessen, dass wir von ihm
unbedingte Verschwiegenheit erwarten. Der Schutz für hilfreiche
menschliche Beziehungen sollte nie verletzt werden und für uns
immer selbstverständlich sein.
Solche unter dem Schutz der Verschwiegenheit stehenden
Beziehungen haben unschätzbare Vorteile. Hier finden wir die
einmalige Gelegenheit, so ehrlich wie überhaupt nur möglich zu
sein. Wir brauchen nicht mit der Möglichkeit zu rechnen, andren
Menschen könnte daraus Schaden entstehen. Wir ssen uns
auch nicht davon fürchten, lächerlich gemacht oder verurteilt zu
werden. Hier haben wir eine ausgezeichnete Gelegenheit, einen
etwaigen Selbstbetrug aufzuspüren.
Wenn wir uns selbst etwas vormachen, kann ein kompetenter
Berater das schnell herausfinden. Wenn er uns dann aus der Welt
unserer phantastischen Ideen zurückholt, werden wir zu unserer
Überraschung feststellen, dass wir nur noch wenig von dem uns
allen gemeinsamen Drang verspüren, uns gegen unangenehme
Wahrheiten verteidigen zu müssen. Auf keine andere Weise
können Furcht, Hochmut und Unwissenheit so schnell abgebaut
werden. Nach einiger Zeit werden wir merken, wie fest wir auf
dem nagelneuen Fundament der Ehrlichkeit stehen.
Darum wollen wir unser vielseitiges Erforschen der großen
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und kleinen Anzeichen unseres Selbstbetrugs fortsetzen. Wir
wollen die Ehrlichkeit sehr gewissenhaft durch Weisheit und Liebe
mildern, aber nie der voller Aufrichtigkeit ausweichen, wenn sie
von uns verlangt wird.
Wir A.A. verstehen sehr gut, wie sehr uns die Wahrheit frei
machen kann:
Sie zerschnitt die Fesseln, die uns einst an den Alkohol
gebunden haben,
Sie befreit uns immer mehr von Konflikten und von
unübersehbarem Elend.
Sie bannt unsere Furcht und Einsamkeit.
Die Einigkeit unserer Gemeinschaft, die Liebe, die wir uns
gegenseitig entgegenbringen, die Hochachtung der Welt uns
gegenüber – all das sind die Ergebnisse einer solchen ehrlichen
Aufrichtigkeit, wie wir sie unter Gottes Führung zu unserem
eigenen Glück erwerben können.
Darum sollten wir unser Streben nach echter Ehrenhaftigkeit
weiter verstärken und sie in allen unseren Angelegenheiten
anwenden.
33
Demut
für den heutigen Tag
Für das menschliche Wesen kann es keine absolute Demut geben.
Wir können bestenfalls die Bedeutung und Herrlichkeit eines
solchen vollkommeneren Ideals ahnen. Im Buch ANONYME
ALKOHOLIKER heißt es: Wir sind keine Heiligen…, wir
beanspruchen für uns eher den spirituellen Fortschritt als die
spirituelle Vollkommenheit.“ Nur Gott selbst kann das
Vollkommene in Erscheinung treten lassen,; wir Menschen müssen
notwendigerweise im Bereich des Relativen leben und wachsen.
Wir suchen die Demut für den heutigen Tag.
Unsere Frage lautet also: Was meinen wir mit dem Ausdruck‘
Demut für den heutigen Tag‘ und wie wissen wir, wann wir sie
gefunden haben?“
Wir brauchen kaum daran erinnert zu werden, dass ein
übermäßiges Schuldgefühl oder eine dauernde Auflehnung zur
spirituellen Verarmung führt. Es hat aber eine lange Zeit gedauert,
bis wir wussten, dass wir viel eher am spirituellen Hochmut
zugrunde gehen konnten. Als wir in der Anfangszeit der A.A. die
erste Ahnung bekamen, wie geistig hochmütig wir sein konnten,
prägten wir den Ausdruck: Versuche ja nicht am Donnerstag (
beim Meeting) so verdammt gut zu sein!“
Diese Mahnung der alten Zeit mag wie manche jener griffbereiten
Ausreden aussehen, mit denen wir uns entschuldigten, wenn wir
nicht unser Bestes zu tun versuchten. Bei näherem
34
Hinsehen offenbart sich uns hier das genaue Gegenteil. Das ist
eben unsere A.A.-Methode, uns selbst vor der aus dem Hochmut
kommenden Blindheit und vor den eingebildeten Vollkommen-
heiten, die wir nicht besitzen, zu warnen. Wir besuchen jetzt nicht
mehr die Bars und Bordelle; wir bringen jetzt unsere Lohntüte nach
Hause; wir sind jetzt sehr aktiv bei den A.A….. und nun
gratulieren uns die Menschen zu diesen Beweisen unseres
Fortschritts. Natürlich gehen wir dann auch so weit, uns selbst zu
unserem Erfolg zu beglückwünschen.
Sicher sind wir aber dabei nicht in Rufweite der Demut. Oft habe
ich, zwar in guter Absicht, doch trotzdem falsch, gesagt oder
gedacht: Ich bin es , der Recht hat und du hast Unrecht“, oder
Gott sei Dank, dass deine |Fehler nicht die meinen sind“, Du bist
drauf und dran die A.A. zu ruinieren, und ich werde dich
kaltstellen“, ich habe die Führung Gottes, also ist Er auf meiner
Seite“… und so weiter bis ins Unendliche.
Alarmierend bei einer solchen Blindheit dem eigenen Hochmut
gegenüber ist die Leichtigkeit, mit der er gerechtfertigt werden
kann. Wir brauchen aber gar nicht lange zu suchen, um diese
trügerische Art jeder Selbst- Rechtfertigung als allumfassende
Zerstörer jeder Harmonie und Liebe zu erkennen. Sie hetzt Mensch
gegen Mensch und Nation gegen Nation. Durch sie kann jede Art
von Torheit und Gewalttätigkeit in ein Licht gerückt werden, in
dem sie als das Richtige, ja als das Achtungswürdige erscheint.
Natürlich haben wir hier nicht zu verurteilen; wir müssen nur uns
selbst erforschen.
Was können wir also tun und immer besser tun, um unser
Schuldgefühl, unsere Auflehnung und unseren Hochmut
abzubauen?
35
Wenn ich eine Inventur solcher Fehler mache, zeichne ich mir gern
ein Bild und erzähle mir dazu eine Geschichte. Mein Bild ist das
einer Landstraße, die zur Demut hinführt. Die Geschichte ist eine
Allegorie, ein Gleichnis.
Auf der einen Seite meiner Landstraße sehr ich einen großen
Sumpf. Der Straßenrand grenzt an ein flaches Moor, das schließlich
zu jenem schlammigen Morast von Schuldgefühlen und innerer
Auflehnung wird, in dem wir so oft herumgewühlt haben. Hier liegt
die Selbstzerstörung auf der Lauer; ich weiß das aus Erfahrung. Das
Land jedoch auf der anderen Seite der Straße sieht schön aus. Ich
sehe einladende Lichtungen und dahinter hohe Berge. Die
zahllosen Pfade die in dieses angenehme Land hineinführen,
scheinen sicher zu sein. Ich denke, es wird leicht sein, den Weg
zurück wiederzufinden.
Mit einigen Freunden beschließe ich, dorthin einen kurzen Umweg
zu machen. Wir wählen unseren Pfad und schlendern froh gelaunt
dahin. In gehobener Stimmung sagt einer: Vielleicht finden wir
Gold auf dem Gipfel jenes Berges.“ Zu unserem Erstaunen stoßen
wir wahrhaftig auf Goldkörner im Strom, sondern auf schon
geprägte Goldstücke. Auf der Vorderseite jeder dieser Münzen
steht der Satz; Das ist reines Gold, vierundzwanzig Karat.“ Wir
nehmen das Gold als Belohnung dafür, dass wir nun geduldig
wieder in die ewige Helligkeit unserer Landstraße zurücktrotten.
Bald aber fangen wir an, die Rückseiten unserer Münzen zu
studieren: Da steigen merkwürdige Ahnungen in uns auf. Einige
Stücke tragen recht anziehende Inschriften:
Ich bin die Macht!“, „Ich bin der Beifall!“, Ich bin die Recht-
schaffenheit!“ sagen sie.
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Andere Inschriften erschienen recht merkwürdig. Da steht zum
Beispiel: „Ich bin die Herrenrasse!“, ich bin der große
Wohltäter!“, „ Ich bin die guten Motive!“, „Ich bin Gott!“….
Das ist doch recht rätselhaft. Trotzdem stecken wir sie ein,. Dann
aber bemerken wir welche, die nun einen wirklichen schock
versetzen. Jetzt lesen wir:
„Ich bin der Hochmut!“, „Ich bin der Zorn!“, „Ich bin die
Aggression!“, „Ich bin die Rachsucht!“, ich bin die Uneinigkeit!“,
„Ich bin das Chaos!“
Schließlich drehen wir nur noch eine, die letzte Münze, um und da
steht: „ Ich bin der Teufel selbst!“
Manche von uns sind erschrocken, wir rufen uns zu: „Das ist ja
Narrengold( Eisenkies) und das hier ist ein Narrenparadies; wir
wollen machen, dass wir von hier fort kommen!“
Einige wollten aber nicht mit uns zurückkehre, sie wollten da
bleiben und diese verdammtem Münzen aussortieren und nur die
behalten, auf denen“ Macht“, Ruhm“, Gerechtigkeit“ Stand. Sie
sagten, wir würden es schon noch bereuen, dass wir nicht mit
ihnen zusammen ausgehalten hätten. ……..
Es ist kein Wunder, dass es Jahre dauerte, bis dieser Teil unserer
ursprünglichen Gruppe wieder zur Landstraße der Demut
zurückfand.
Sie erzählten uns die Geschichte der anderen, die geschworen
hatten, nie wieder zurückzukehren. Sie hatten gesagt; Dieses
Geld ist wirkliches Gold; ihr braucht uns gar nicht das Gegenteil
einzureden. Natürlich mögen wir diese üblen Motive nicht. Aber es
gibt hier genug Holz; wir wollen einfach dieses ganze Zeug in gute
solide Goldbarren einschmelzen.“
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Unsere zurückgekehrten Freunde erzählten dann weiter, wie das
Gold des Hochmuts unsere Brüder schließlich völlig in seine
Gewalt brachte: Sie stritten sich schon über die Goldbarren, als
wir sie verließen. Manche wurden verwundet, einige lagen im
Sterben. Sie waren dabei, sich gegenseitig umzubringen.“
Dieses symbolische Bild erzählt anschaulich, das ich die Demut,
für den heutigen Tag“ nur in dem Maße erlangen kann, wie ich
einerseits den Sumpf der Schuldgefühle und der Auflehnung,
andererseits aber auch das trügerisch schöne, mit dem Gold des
Hochmuts übersäte Land vermeiden kann. Nur so kann ich die
Straße der Demut, die zwischen diesen beiden Abwegen verläuft,
finden und auf ihr bleiben. Darum ist es nötig, ständig meine
Inventur zu machen, die mir sagen kann, wenn ich von der Straße
abkomme. Natürlich werden sich unsere ersten Versuche, Inventur
zu machen, als unrealistisch erweisen. Ich pflege so ein Held in
unrealistischen Selbsteinschätzungen zu sein.
Ich wollte nur auf den Teil meines Lebens schauen, der gut aussah.
Darum übertrieb ich maßlos alle Tugenden, die ich nach meiner
Meinung nach hatte. Ich gratulierte mir zu der wunderbaren
Arbeit, die ich leistete. Auf diese Weise hat aber mein unbewusster
Selbstbetrug immer wieder meine weniger guten Eigenschaften in
ernsthafte Fehler umgewandelt. Für mich bedeutete aber damals
dieser erstaunliche Vorgang immer etwas Erfreuliches. Und diese
Freude erzeugte ein schreckliches Verlangen nach immer mehr
Vollkommenheit“ und nach noch mehr Beifall.
So fiel ich prompt wieder in den Zustand meiner Sauftage zurück.
Ich hatte nun wieder dieselben alten Ziele: Macht, Ruhm, Beifall.
Dabei hatte ich aber für alles die bestmögliche
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Ausrede: Ich besaß ja ein spirituelles Alibi. Die Tatsache, dass ich
wirklich immer ein geistiges Ziel hatte, ließ mir diesen kompletten
Unsinn als vollkommen richtig erscheinen. Ich konnte die echte
Münze nicht mehr von der falschen unterscheiden. Ich fertigte mir
spirituelle Goldbarren im schlimmen Sinne.
Ich werde immer den Schaden bedauern, den ich dadurch unter
den Menschen meiner Umgebung angerichtet habe. Ich zittere
wirklich immer noch bei dem Gedanken, welches Unheil ich der
Gemeinschaft der A.A. und ihrer Zukunft zugefügt haben könnte.
In jenem Tagen kümmerte ich mich nicht viel um die Aufgaben
meines Lebens, bei denen ich stehen geblieben war. Auch da hatte
ich immer eine Ausrede und sagte mir: „Schließlich bin ich viel zu
beschäftigt und habe wichtigere Dinge zu tun‘“ Das war mein
nahezu perfektes Rezept für meine Bequemlichkeit und
Selbstzufriedenheit.
Ich kam nicht darum herum, mir gelegentlich bestimmte
Situationen genauer zu betrachten, in denen ich unverkennbar
Schlechtes leistete. Dann setzte aber sofort eine flammende
Auflehnung in mir ein. Das Suchen nach Ausreden wurde ganz
verrückt. Ich sagte mir: „ Das sind doch wirklich nur jene Fehler, die
jeder gute Mensch hat.“
Wenn dieses Lieblingsspielzeug dann schließlich doch
entzweibrach, dachte ich: „ Wenn diese Menschen mich nur richtig
behandeln würden, dann würde ich mich auch nicht so aufführen,
wie ich es tue.“ Danach kam dann noch der Gedanke: Gott weiß
doch nur zu gut, dass ich diese schrecklichen Zwangsvorstellungen
habe. Ich kann nicht Herr über sie werden. Er muss mich doch
davon befreien.“ Zuletzt kam dann eine Zeit, in der ich rief: Diese
Sache will ich einfach
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nicht tun, ich will es nicht einmal versuchen!“ Natürlich wurden
meine Konflikte immer grösser, ich war angefüllt mit Ausreden und
mit Widerstand bis obenhin.
Als mich diese Schwierigkeiten endlich zur Genüge fertiggemacht
hatten, zeigte sich noch ein anderer Fluchtweg. Ich begann, im
Sumpf des Schuldgefühls herumzustapfen. Der Stolz und die
Auflehnung wichen nun der Depression. Obgleich es zahlreiche
Variationen zu diesem Thema gab, hatten sie doch meistens den
gleichen Ton: Was bin ich doch für ein verdammt elender Kerl!“
Genauso, wie ich meine bescheidenen Erfolge mit meiner
Einbildung übertrieben hatte, vergrößerte ich jetzt meine Fehler
durch mein Schuldbewusstsein.
Ich raste damit herum und bekannte alles(und noch einen guten
Teil mehr!) jedem, der mir zuhören wollte. Ihr mögt es glauben
oder nicht: das hielt ich für eine große Demut meinerseits. Ich
rechnete mir das nun als die einzig mir verbliebene wertvolle
Eigenschaft und als meinen Trost an. Während dieser Anfälle von
Schuldbewusstsein empfand ich aber nie ein aufrichtiges Bedauern
über die Schäden, die ich angerichtet hatte. ich dachte auch im
Ernst nie daran, solche Schäden wieder gut zu machen, obwohl ich
es gekonnte hätte. Nie kam mir die Idee, Gott um Vergebung zu
bitten; ich sah auch keinen Grund, mir wegen meines Verhaltens
Vorwürfe zu machen.
Natürlich untersuchte ich nie meine eigentliche Schuld, nämlich
meinen geistigen Hochmut und meine Arroganz. Ich hatte ja das
Licht ausgeschaltet, in dem ich jene Fehler hätte sehen können.
Heute glaube ich, dass eine klare Verbindung zwischen meinem
Schuldgefühl und meinem Hochmut bestand. Sie dienten sicher
nur dazu, die Aufmerksamkeit auf mich zu
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lenken. In meiner Einbildung sagte ich etwa: Schaut mich doch
an, welch wunderbarer Mensch ich bin!“
Wenn mich dann das Schuldbewusstsein packte, jammerte ich:
Was bin ich doch für ein schändlicher Kerl!“ Das Schuldgefühl ist,
tatsächlich die Rückseite der Münze des Stolzes. Das Schuldbe-
wusstsein zielt auf die Selbstzerstörung; der Hochmut geht aber
auf die Zerstörung der anderen aus.
Für mich ist die Demut Demut für den heutigen Tag“ jene zu-
verlässige Haltung, die genau in der Mitte zwischen diesen beiden
Extremen des Gefühlslebens liegt. Diese Demut ist der ruhige Ort,
von dem aus ich einen genügenden Überblick habe - und wo ich
das ausreichende Gleichgewicht finden kann, meinen nächsten
Schritt auf dem klar markierten Weg zu tun, der zu den ewigen
Werten führt.
Viele von uns haben weit größere Wirbel in ihrem Gefühlsleben
gehabt als ich. Andere haben weniger mitgemacht. Aber keinem
von uns bleiben sie von Zeit zu Zeit erspart. Dennoch meine ich,
wir sollten diese Konflikte nicht bedauern. Sie scheinen ein not-
wendiger Bestandteil im Leben unserer Gefühle und unseres
Geistes beim Erwachsenwerden zu sein. Sie sind das Rohmaterial,
aus dem viel für unseren Fortschritt gemacht werden muss.
Sollte nun jemand fragen, ob die A.A. in einer dunklen Höhle leben,
in der sie sich mit Schmerzen und Konflikten herumquälen, lautet
die Antwort: Gewiss nicht! Wir A.A. haben in einem hohen Masse
Frieden gefunden. Langsam haben wir eine immer grösser
werdende Demut erlangt, deren Dividende eine frohe Gelassenheit
und eine berechtigte Freude ist. Wir kommen nicht mehr so oft wie
früher auf Abwege.
Zu Beginn dieser Betrachtung äußerte ich den Gedanken, dass die
absoluten Ideale weit jenseits von dem liegen, was
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wir erreichen oder auch nur verstehen können. Wir würden es
also ernstlich an Demut fehlen lassen, wenn wir der Überzeugung
wären, in der kurzen Zeit unseres irdischen Daseins so etwas wie
eine absolute Vollkommenheit erlangen zu können. Eine solche
Annahme ist denn doch der Gipfel des geistigen Hochmuts. Diese
Worte dienen manchen Leuten als Begründung bei der Ablehnung
aller absoluten geistigen Werte. Sie sagen, Perfektionisten seien
mit ihrer Einbildung, ein unmögliches Ziel geschafft zu haben,
voller Selbsttäuschung oder aber sie gingen in Selbstverdammung
unter, weil sie das gesteckte Ziel nicht erreicht hätten.
Ich meine aber, wir sollten eine solche Auffassung nicht teilen. Es
ist nicht die Schuld der hohen Ideale, wenn sie falsch verstanden
werden und dann als oberflächliche Entschuldigung für
Schuldgefühle, Auflehnung und Hochmut herhalten müssen. Im
Gegenteil, wir können gar nicht weiter wachsen, wenn wir uns
nicht ständig ein geistiges Bild von den ewigen Werten zu machen
versuchten. Wie der Elfte Schritt in unserem Programm sagt, „
suchten wir durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung
zu Gott - wie wir ihn verstanden - zu vertiefen. Wir baten ihn nur,
seinen Willen für uns erkennbar werden zu lassen und um die
Kraft, ihn auszuführen.“
Das bedeutet doch , dass wir uns in erster Linie um die
Vollkommenheit Gottes als führende Kraft in unserem Leben
bemühen sollten - und nicht diese Vollkommenheit für uns selbst
zu einem Ziel nehmen, das wir meinen, in absehbarer Zeit
erreichen zu können.
Ich bin zum Beispiel sicher, dass ich die beste Erklärung für die
Demut suchen muss, die ich mir geistig vorstellen kann. Diese
genaue Bezeichnung braucht aber nicht absolut vollkommen zu
sein; ich brauche ja nur den Versuch zu machen.
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Angenommen, ich wählte folgende Erklärung: Eine vollkommene
Demut ist ein Zustand völliger Unabhängigkeit und eine Befreiung
von meiner Ichbezogenheit und eine Befreiung von allen
Belastungen meiner Charakterfehler, die mir schwer zu schaffen
machen. Eine vollkommene Demut wäre demnach die völlige
Bereitwilligkeit, zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten den
Willen Gottes zu finden und zu tun.
Wenn ich über eine solche geistige Darstellung nachdenke, braucht
mich einerseits der Gedanke, nie eine absolute Vollkommenheit zu
erreichen, nicht zu bedrücken. Andererseits sollte ich mich vor
überheblichen Überlegungen hüten, alle Tugenden der Demut
eines Tages vollkommen zu besitzen.
Es ist für mich allein notwendig, dass ich bei einer solchen
Darstellung bleibe und sie in meinem Herzen wachsen lasse, um es
immer mehr damit zu füllen. Wenn ich das tun will, kann ich nun
mit meiner letzten persönlichen Inventur einen Vergleich ziehen.
Ich bekomme dann eine klare und gesunde Vorstellung meines
Standortes auf der Landstraße zur Demut. Ich sehe dann, dass
meine Reise zu Gott gerade eben begonnen hat.
Wenn ich so zu meiner Größe und Statur heruntersteigen muss,
wird die ständige Sorge um mich selbst und das Wichtig nehmen
der eigenen Person wirklich lächerlich. Erst dann wächst bei mir
der Glaube, dass auch ich auf dieser Landstraße meinen Platz habe;
ich kann auf ihr mit einem immer tiefer werdenden Frieden und
mit Vertrauen vorwärtsgehen.
Dann weiß ich wieder einmal, dass Gott gut ist und ich mich vor
keinem Unheil fürchten brauche. Dieses Wissen, eine göttliche
Bestimmung zu haben, ist ein großes Geschenk.
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Wenn ich dann meine Betrachtung von Gottes Vollkommenheit
fortsetze, entdecke ich noch eine andere Freude. Als ich noch ein
Kind war und die erste Symphonie in meinem Leben hörte, wurde
ich in eine unbeschreibliche Harmonie emporgehoben, obwohl ich
nur wenig davon wusste, wie und woher sie kam.
So kann ich heute, wenn ich auf die Sphärenmusik Gottes lausche,
jetzt und immer wieder jene göttlichen Klänge hören, die mir
zusichern, dass der göttliche Komponist mich liebt - und ich Ihn
lieben darf.
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Liebe
Die nächste Front in unserem Kampf ist die Nüchternheit
in unserem Gefühlsleben
Ich denke, viele ältere Zugehörige, die unsere A.A.-Kur gegen die
Trunksucht einer strengen, aber erfolgreichen Prüfung unterzogen
haben, meinen trotzdem, dass es ihnen im Gefühlsleben noch an
Nüchternheit fehlt. Vielleicht werden diese dann der Vortrupp r
die nächste wichtige Entwicklung der A.A. sein: Für die Entfaltung
einer größeren Reife und Ausgeglichenheit (das setzt aber Demut
voraus) in unseren Beziehungen zu uns selbst, zu unseren
Mitmenschen und zu Gott.
Dieser sehr jugendhefte Drang, den so viele unter uns nach
höchster Anerkennung, völliger Sicherheit und nach vollkommenen
Liebeserlebnissen haben - ein Drängen, das dem Alter von siebzehn
angemessen ist - erweist sich doch als eine unpassende
Lebenshaltung, wenn wir siebenundvierzig oder siebenund fünfzig
Jahre alt sind.
Seit den ersten Tagen der A.A. habe ich in allen diesen Bereichen
unendlich viele Nackenschläge eingesteckt, weil ich es nicht
schaffte, in meiner Gefühlswelt und in meiner geistigen
(spirituellen) Leben ein Erwachsener zu werden. Mein Gott, wie
weh tat das doch, immer weiter das Unmögliche zu verlangen -
und erst recht, wenn wir am Ende entdecken mussten, dass wir auf
unserem bisherigen Weg immer den Wagon vor das Pferd
gespannt hatten.
Schließlich, kommen wir zu der endgültigen und peinvollen
Einsicht, wie schrecklich falsch wir gehandelt haben, aber
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nicht mehr fähig sind, aus dem Karussell unserer Gefühls-
verwirrungen herauszukommen.
Wie man eine verstandesmäßig richtige Übersetzung auch
gefühlsmäßig richtig verarbeitet und in ein leichteres, glücklicheres
und gutes Leben überträgt, ist schließlich nicht nur das Problem
des Neurotikers. Das ist vielmehr das Lebensproblem für uns alle,
die wir an den Punkt gekommen sind, an dem wir gerechten
Grundsätzen in unseren Angelegenheiten einen Weg bahnen
wollen.
Aber gerade dann, wenn wir uns diesen Weg freizumachen
versuchen, bleiben uns Friede und Freude immer noch versagt. Bis
zu diesem Punkt sind viele von uns älteren A.A. gekommen. Das ist
wirklich ein Ort der Hölle. Wie soll unser Unterbewusstsein, aus
dem so viele unserer Ängste, Zwangshandlungen und unechten
Regungen immer wieder aufsteigen, mit dem in Einklang gebracht
werden, was wir tatsächlich glauben , wissen und wollen?
Wie können wir den stumpfsinnigen, wütenden und verbogenen
Doppelgänger in unserem Unterbewusstsein zur Vernunft bringen?
Das wird jetzt zu unserer wichtigsten Aufgabe.
Neuerdings bin ich aber zu der Überzeugung gekommen, dass man
es schaffen kann. Ich glaube das, weil ich viele Menschen in
derselben Dunkelheit sehe - Menschen wie du und ich -, die Erfolg
zu haben beginnen.
Vor einigen Jahren überfiel mich eine schwere Depression, für die
es überhaupt keine vernünftige Ursache gab. Trotzdem hat die
mich fast zugrunde gerichtet. Ich bekam tatsächlich wieder Angst
vor einem langen, chronischen Rückfall. Wenn ich an das Elend
dachte, das früher auf meine Depressionen folgte, war das wirklich
keine wirklich keine sonnige Aussicht.
46
Ich fragte mich dauernd, warum mir Zwölf Schritte nicht helfen und
mich von den Depressionen befreien konnten.
In dieser Stunde fiel mein Blick auf das Gebet des Heiligen
Franziskus von Assisi: Lass mich mehr danach verlangen, andere
zu trösten, als selbst getröstet zu werden…“
Ja, hier war die Formel; aber warum wirkte sie nicht?
Ich sann über das ganze Gebet nach:
„Herr, mache aus mir ein Werkzeug Deines Friedens!
Wo Hass herrscht, lass mich Liebe bringen,
Wo Kränkung, die Vergebung,
Wo Zwietracht, die Versöhnung,
Wo Irrtum, die Wahrheit,
Wo Zweifel, den Glauben,
Wo Verzweiflung, die Hoffnung,
Wo Finsternis, Dein Licht,
Wo Traurigkeit, die Freude!
O Meister, lass mich mehr danach verlangen,
Andere zu trösten, als selbst getröstet,
Andere zu verstehen, als selbst verstanden,
Andere zu lieben, als selbst geliebt zu werden;
Denn Geben macht reich, Denn Geben macht reich,
Und im Selbstvergessen liegt der Friede,
Im Verzeihen erlangen wir die Vergebung,
Und im Sterben ist ewige Auferstehung.“
47
Plötzlich ging mir auf, um was es sich eigentlich handelte. Mein
Hauptfehler war immer die Abhängigkeit, eine fast absolute
Abhängigkeit von Menschen oder Umständen gewesen, die mir
Anerkennung, Sicherheit und alles Übrige verschaffen sollten.
Und wenn dann die Niederlage kam, waren gleichzeitig die
Depressionen da.
Es gab so lange keine Möglichkeit, die ausströmende Liebe des
Heiligen Franziskus zu einer wirkungsvollen starken und frohen
Lebenshaltung zu machen, bis nicht diese verhängnisvollen,
krankhaften Abhängigkeiten ausgemerzt waren.
Weil ich nun im Laufe der Jahre eine gewisse geistige Entwicklung
durchgemacht hatte, war mir der absolute Charakter dieser
schrecklichen Abhängigkeiten mit einer so deutlichen Klarheit wie
nie zuvor offenbart worden. Bestärkt durch alle Hilfen der Gnade,
die ich im Beten gewann, wurde mir nun klar, dass ich alle
Willenskraft und mein ganzes Handeln einsetzen musste, um diese
falschen gefühlsmäßigen Abhängigkeiten von Menschen, von den
A.A. und von allen beliebigen Umständen völlig auszuschalten.
Erst dann konnte ich frei sein, so zu lieben, wie es Franziskus tat.
Ich sah ein, dass die Erfüllung meiner sehnsüchtigen Gefühle und
die Befriedigung meiner Lebenswünsche der zusätzliche Gewinn-
anteil waren, wenn ich wirkliche Liebe nahm und gab und in jeder
Lebensbeziehung die angemessene Zuneigung anbot.
Es war offensichtlich, ich konnte erst dann Gottes Liebe für mich
empfangen, wenn ich sie Ihm dadurch wieder zurückgab, dass ich
die anderen so liebte, wie Er es von mir erwartete.
48
Das konnte ich aber so lange nicht tun, wie ich das Opfer falscher
Abhängigkeiten war.
Denn meine Abhängigkeit bedeutete Forderung: Forderung an die
Menschen und die mich umgebenden Verhältnisse, die ich besitzen
und beherrschen wollte. Vielleicht erscheinen die Worte „ absolute
Abhängigkeit“ manchen als Mätzchen. Für mich hatten sie aber
eine große Bedeutung. Sie halfen mir, meine Befreiung bis zu
meinem jetzigen Grad an Stabilität und Seelenruhe auszulösen; sie
bewirkten also die Eigenschaften, die ich jetzt dadurch zu festigen
versuche, dass ich anderen meine Liebe anbiete ohne Rücksicht
darauf, ob sie von ihnen erwidert wird.
Das scheint der wichtigste und heilkräftigste Stromkreis zu sein, in
den wir hineinkommen müssen; Wir sollen in einer von uns
ausströmenden Liebe die Kreatur Gottes und Seine Menschen
durch die Mittel lieben, die wir aus Seiner Liebe empfangen. Es ist
völlig klar, dass der wirkliche Kraftstrom erst dann funktionieren
kann, wenn unsere lähmenden Abhängigkeiten zerbrochen und bis
in ihre tiefsten Tiefen hinein aufgelöst sind. Erst dann können wir
eine Ahnung davon bekommen, was die Liebe eines erwachsenen
Menschen in Wahrheit ist.
Das ist ja ein geistiges Rechengeschäft!“, sagst du vielleicht.
Nicht im Geringsten! Beobachte einmal einen A.A. mit sechs
Monaten Trockenheit bei seiner Arbeit im Zwölften Schritt mit
einem Neuen. Wenn der Neue ihm sagt: „ Scher‘ dich zum Teufel!“,
lächelt dieser A.A. und wendet seine Hilfe einem anderen Fall zu.
Er fühlt sich nicht enttäuscht und zurückgestoßen.
Wenn sein nächster Fall aber positiv reagiert und seinerseits
anfängt, anderen Alkoholikern Liebe und Aufmerksamkeit
49
zu schenken, dem Sponsor aber nichts davon zurückgibt, ist dieser
auch darüber glücklich. Auch jetzt fühlt er sich nicht zurückge-
wiesen, sondern freut sich, dass der Neue, um den er sich damals
bemühte, nun nüchtern und zufrieden ist.
Wenn aber der Fall, der danach kommt, zu einer späteren Zeit sein
Freund(oder Freundin) wird, ist der Sponsor von Herzen froh. Er
weiß genau, dass sein Glücksgefühl nur ein Nebenprodukt ist; es ist
der zusätzliche Gewinnanteil für sein Geschenk ohne Erwartung
einer Gegengabe“.
Was ihn wirklich aus einem labilen zu einem stabilen Menschen
machte, war die Liebe, die er empfand und die er jenem fremden
Betrunkenen erwies, der auf seiner Schwelle lag. Da war Sankt
Franziskus am Werk: Stark, praktisch, ohne Abhängigkeit und ohne
Forderung.
Während der ersten sechs Monate meiner chternheit habe ich
mit vielen Alkoholikern hart gearbeitet. Allerdings hat kein Einziger
von ihnen darauf positiv reagiert. Mir selbst aber hat diese Arbeit
meine Nüchternheit erhalten. Es ging überhaupt nicht darum, ob
jene Alkoholiker mir etwas zurückgegeben haben. Meine eigene
Stabilität rührt aber von meinem Versuch her, ihnen etwas zu
geben und nicht aus meinem Verlangen, von ihnen etwas haben zu
wollen.
Ich glaube, dass sich diese Einstellung zu einer Nüchternheit im
Gefühlsleben auswirken kann. Wenn wir jede kleine oder große
Störung in unserem Gefühlsleben untersuchen, werden wir an
ihrer Wurzel irgendeine ungesunde Abhängigkeit und eine daraus
folgende ungesunde Forderungen entdecken.
Mit Gottes Hilfe wollen wir Ihm diese Forderungen, über die wir
dauernd stolpern, überlassen. Dann können wir frei werden, um
wirklich zu leben und zu lieben. Dann dürfen wir vielleicht auch
50
den Zwölften Schritt auf uns und auf andere anwenden, um zur
Nüchternheit im Gefühlsleben zu gelangen.
Natürlich habe ich euch da keine neue Idee angeboten, sondern
nur einen „Trick“, der mich aber von einigen meiner schwer
wiegenden Fehlhaltung befreite.
Heute rast mein Hirn nicht mehr unter dem Zwang, jetzt
himmelhoch jauchzend und großsprecherisch und dann zu Tode
betrübt zu sein.
Mir ist ein stiller Platz im hellen Sonnenschein geschenkt worden
51
Warum
die Gemeinschaft der A.A. anonym ist
Wie nie zuvor reißt der Kampf um Macht, Geltung und Reichtum
die Zivilisation auseinander. Mensch steht gegen Mensch, Familie
gegen Familie, Gruppe gegen Gruppe, Nation gegen Nation.
Fast alle, die an diesem scharfen Wettkampf beteiligt sind,
erklären, ihr Ziel sei Friede und Gerechtigkeit für sie selbst, für ihre
Nächsten und für ihre Nationen.“ Ihr braucht uns nur die Macht zu
geben, dann werden wir Gerechtigkeit haben; macht uns berühmt
- und wir werden ein großes Beispiel geben; verschafft uns Geld,
dann werden wir alle bequem leben und glücklich sein.“ Daran
glauben die Menschen in der ganzen Welt und handeln
entsprechend. Auf dem Weg dieses schrecklichen Trockenrausches
scheint die Gesellschaft in eine Sackgasse hineinzutaumeln. Das
Stop- Zeichen sagt ganz deutlich: Halt! Unheil!“Was hat das mit
der Anonymität und mit den Anonymen Alkoholikern zu tun?
Wir A.A. sollten das wissen. Fast jeder von uns ist eine ebensolche
Sackgasse hineingeraten. Bestärkt durch den Alkohol und durch
unsere Selbstgerechtigkeit sind viele von uns diesen Trugbildern
der Überheblichkeit und des Geldes bis hart vor diesem Unheil-
Stop-Zeichen nachgejagt. Dann kamen wir zu den A.A. Wir
schauten um uns und fanden uns auf einer neuen Straße, auf der
die Markierungen nie ein Wort von Macht, Ruhm oder Reichtum
sagten. Auf den neuen
52
Tafeln lasen wir: Dies ist der Weg zur Genesung und frohen
Gelassenheit -der Preis dafür ist, das Ich zu opfern.“
Unser Buch Die Zwölf Schritte und die Zwölf Traditionen“ stellt
fest, dass die Anonymität der stärkste Schutz ist, den unsere
Gemeinschaft je haben kann. Es sagt aber auch „die geistige
(spirituelle) Substanz der Anonymität ist Opfer“.
Wir wollen uns der Erfahrung der A.A. zuwenden und sehen, wie
wir zu diesem Glauben gekommen sind, der jetzt in unseren
Traditionen Elf und Zwölf seinen Ausdruck findet.
Am Anfang haben wir dem Alkohol geopfert. Das mussten wir tun,
sonst hätte er uns getötet. Wir konnten uns aber vom Alkohol
befreien, ohne auch noch andere Opfer zu bringen. Unsere Groß-
mannssucht und unser großsprecherisches Denken mussten auch
verschwinden. Dann mussten wir unsere Selbstrechtfertigung,
unser Selbstmitleid und unseren Ärger buchstäblich zum Fenster
hinauswerfen. Wir mussten den verrückten Wettkampf um unser
persönliches Prestige und um hohe Bankkonten aufgeben. Wir
hatten die Verantwortung für unseren erbärmlichen Zustand selbst
zu tragen und aufzuhören, anderen dafür Vorwürfe zu machen.
Waren das Opfer? - Ja, das waren sie. Um genug Demut und Selbst-
achtung zu erwerben, um überhaupt am Leben bleiben zu können,
mussten wir alles aufgeben, was unser liebster Besitz gewesen
war: Unseren Ehrgeiz und unseren ungerechtfertigten Stolz. Aber
auch das war noch nicht genug, wir mussten weitere Opfer
bringen. Andere Menschen sollten einen Nutzen davon haben.
Darum nahmen wir manche Arbeit im Zwölften Schritt auf uns. Wir
begannen, die A.A.- Botschaft hinaustragen. Wir opferten dafür
Zeit, Kraft und unser eigenes Geld. Wir konnten uns ja das, was wir
besaßen, nicht erhalten, wenn wir es nicht hergaben.
53
Haben wir verlangt, dass unsere neuen Schützlinge uns dafür etwas
geben sollten? Haben wir ihnen nahe gelegt, uns Macht über ihr
Leben zu geben? Suchten wir Ruhm für unser gutes Wirken?
Erwarteten wir auch nur die kleinste Münze von ihrem Geld? -
Nein, gewiss nicht. Wir erkannten, dass unsere Arbeit im Zwölften
Schritt nutzlos sein würde, wenn wir etwas von diesen Dingen
verlangten. So mussten auch diese ganz natürlichen Wünsche
geopfert werden, weil unsere neuen Schützlinge sonst nur wenig
oder gar keine Nüchternheit erlangen und wir natürlich die unsere
verlieren würden.
Wir lernten, dass opfern einen doppelten - oder überhaupt keinen
- Vorteil bringen würde. Wir wurden immer besser mit einer Art
von Hergabe unseres Ichs vertraut, an der kein Preiszettel klebte.
Als sich die erste A.A.- Gruppe bildete, lernten wir bald noch viel
mehr darüber. Wir erkannten, dass jeder von uns freiwillige Opfer
für die gruppe bringen musste, Opfer für die gemeinsame
Wohlfahrt. Andererseits entdeckte die Gruppe, dass sie viele ihrer
eigenen Rechte zum Schutz und zum Wohlergehen jedes einzelnen
Zugehörigen und der A.A. in ihrer Gesamtheit aufgeben musste.
Diese Opfer waren nötig, da andernfalls die A.A. nicht weiter
existieren konnten.
Aufgrund dieser Erfahrung und Einsichten nahmen die Zwölf
Traditionen der Anonymen Alkoholiker allmählich Gestalt und
Inhalt an.
Schrittweise erkannten wir, dass die Einigkeit, die Wirkungskraft -
ja, selbst das Überleben- der A.A. immer von unseren persönlichen
Ehrgeiz und unsere eigenen Wünsche für die allgemeine Sicherheit
und Wohlfahrt zu opfern. Genauso wie das
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Opfer für jeden Einzelnen von uns sein Weiterleben bedeutet, so
bedeutet Opfer auch Einigkeit und Weiterleben für die Gruppe und
für die A.A. in ihrer Gesamtheit.
So betrachtet sind die Zwölf Traditionen der A.A. kaum etwas
anderes als eine Liste von Opfern; die Erfahrung von Jahrzehnten
hat uns gelehrt, dass wir individuell und kollektiv opfern müssen,
wenn die Gemeinschaft der A.A. selbst gesund und am Leben
bleiben soll.
In unseren Zwölf Traditionen haben wir unseren Blick auf fast jede
wichtige Tendenz der Außenwelt gerichtet. Wir haben uns
persönliches Führertum, Professionalismus und das Recht zu
entscheiden, wer zu uns gehören soll, versagt. Wir bilden uns nicht
mehr ein, „ gute Werke“ zu tun, die Welt reformieren und väterlich
herablassend für Alkoholiker sorgen zu wollen. Wir lehnen Geld
aus karikativen Quellen ab und ziehen es vor, für uns selbst zu
zahlen. Wir wollen praktisch mit jedem zusammenarbeiten, lehnen
es aber ab, unsere Gemeinschaft mit irgendwem zu verheiraten.
Wir enthalten uns der öffentlichen Auseinandersetzung und wollen
auch unter uns nicht über Religion, Politik und Reformen streiten,
jene Dinge, die die Gesellschaft auseinander reißen. Wir haben nur
ein einziges Ziel: die A.A.- Botschaft zu jedem kranken Alkoholiker
zu bringen, der sie haben will.
Diese Haltung nehmen wir nicht ein, weil wir für uns eine
besondere Tugend oder Weisheit in Anspruch nehmen. Wir tun es,
weil eine harte Erfahrung uns gelehrt hat, dass nur so in der
jetzigen zerrissenen Welt unsere Gemeinschaft am Leben bleiben
kann. Wir geben Rechte auf und bringen Opfer, weil wir das tun
müssen - besser noch, weil wir das tun wollen. Die A.A. in ihrer
Geschlossenheit sind eine größere Macht als jeder Einzelne von
uns. Die Gemeinschaft muss
55
weiterleben, sonst müssen ungezählte Tausende unserer Art
sterben. Das wissen wir.
Wie passt nun die Anonymität ist dieses Bild? Was ist denn
Anonymität eigentlich? Warum haben wir sie für den stärksten
Schutz, den die A.A. je haben können? Warum ist sie das größte
Symbol für unsere persönlichen Opfer und der geistige Schlüssel zu
unseren Traditionen und zu unserer ganzen Lebensweise?
Ich habe die große Hoffnung, dass nachstehender Ausschnitt aus
der A.A.-Geschichte die Antwort geben kann, die wir alle suchen.
Vor Jahren wurde ein bekannter Fußballspieler durch die A.A.
nüchtern. Da seine Rückkehr aufs Spielfeld einer Sensation glich,
erhielt er in der Presse ungeheure persönliche Ovationen- und die
Anonymen Alkoholiker bekamen ihren Teil von dieser
Anerkennung ab. Millionen Fans seinen vollen Namen und sein Bild
als A.A. Das hat uns viel Gutes getan. Massen von Alkoholikern
strömten zu uns. Wir liebten das. Besonders ich war darüber hoch
beglückt, es brachte mich auf neue Ideen.
Bald war ich unterwegs; voll Begeisterung erteilte ich persönliche
Interviews und gab Bilder von mir her. Zu meiner riesigen Freude
erschien mein Bild auf der Titelseite der Zeitungen, genauso wie
der Fußballspieler. Nur konnte er seinen Platz in der Öffentlichkeit
nicht halten, ich aber konnte meinen behaupten. Ich brauchte
immer nur weiter solche Reisen zu unternehmen und Vorträge zu
halten. Die örtlichen A.A.-Gruppen und die Zeitungen taten das
Übrige. Ich war wirklich erstaunt, als ich mir neulich diese alten
Zeitungsgeschichten ansah. Zwei oder drei Jahre lang war ich
vermutlich der Anonymitäts-Brecher Nummer eins.
56
Ich kann also wirklich keinem A.A. einen Vorwurf machen, wenn er
sich seitdem ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gedrängt hat. Ich
habe ja vor Jahren das Musterbeispiel dafür gegeben.
Zu jener Zeit schien das die Sache zu sein, die getan werden
musste. Auf diese Weise gerechtfertigt, habe ich das entsprechend
genossen. Ich empfand eine wohltuende Genugtuung, wenn ich
diese Zwei-Spalten-Artikel mit vollem Namen und Bild über Bill,
den Börsenmakler“ las, von dem Mann, der die Trinker zu
Tausenden rettete!
Dann zeigten sich aber auf diesem hellen Himmel einige kleine
Wolken. Ein Gemurmel von A.A.-Skeptikern war zu ren: Dieser
Kerl, der Bill, reißt den ganzen Erflog an sich. Dr. Bob bekommt
nicht seinen verdienten Anteil.“ oder es hieß: „ Vielleicht steigt
diese ganze Publizität dem Bill in den Kopf - und er wird an uns A.A.
betrunken.“
Dieser Stachel sbei mir. Wie konnten sie über mich losziehen,
wo ich doch so viel Gutes tat? Ich sagte meinen Kritikern, wir seien
doch hier in Amerika; ob sie denn nicht wüssten, dass ich das Recht
der Rede besäße? Würde denn nicht dieses und jedes andere Land
von Führern mit großem Namen regiert? Die Anonymität mochte
vielleicht für den „ gewöhnlichen A.A.“ okay sein. Bei den Mit-
begründern sollte man aber eine Ausnahme machen. Die
Öffentlichkeit hatte doch sicher ein Recht, zu wissen, wer wir
eigentlich waren.
Die wirklich Machtsüchtigen bei den A.A.(Leute, die genauso
hungrig nach Prestige waren wie ich) hatten es mir bald
nachgemacht. Auch sie wollten Ausnahmen sein. Sie sagten,
Anonymität in der Öffentlichkeit sei nur etwas für ängstliche
Menschen. Alle tapferen und kühnen Seelen wie sie sollten sich vor
die Blitzlichter stellen, damit man sie zählen konnte:
57
Diese Art Mut würde bald das Schandmal von den Alkoholikern
nehmen. Dann würde die Öffentlichkeit erst richtig sehen, was für
großartige Mitbürger die genesenen Trinker darstellten. So
brachen also immer mehr Freunde ihre Anonymität - und alle für
das Wohl der A.A! Was war denn dabei, wenn ein Alkoholiker
wirklich mit dem Gouverneur (dem Chef der Staatsregierung)
fotografiert wurde? Beide, er und der Gouverneur, verdienten
doch wohl diese Ehre, oder? So sausten wir immer weiter ich die
Sackgasse hinein!
Die nächste Entwicklung beim Brechen der Anonymität sah sogar
noch rosiger aus. Eine meiner A.A.-Bekannten wollte sich der
Alkohol-Erziehung widmen. Eine Abteilung einer großen
Universität, die am Thema Alkoholismus interessiert war, hatte sie
gebeten zu reisen und der Öffentlichkeit bei ihren Vorträgen zu
sagen, die Alkoholiker seien kranke Menschen - und man könnte
viel gegen diese Krankheit tun. Meine Bekannte war eine
hervorragende Rednerin und eine ausgezeichnete Journalistin.
Durfte sie sich nun vor der Öffentlichkeit zu ihrer A.A.- Zu-
gehörigkeit bekennen?
Ja, warum denn nicht? Wenn sie den Namen der Anonymen
Alkoholiker nannte, würde sie auf eine feine Art für die gute Sache
der Alkohol-Erziehung und auch für die A.A. werben. Ich hielt das
für eine ausgezeichnete Idee und gab ihr dazu meinen Segen.
So waren die A.A. bereits dabei, einen berühmten, wertvollen
Namen zu erwerben. Gestützt auf unseren Namen und auf ihre
Tüchtigkeit hatte sie große Erfolge. In kürzester Zeit erschien ihr
voller Name samt Bild mit ausgezeichneten Berichten über ihre
Erziehungsarbeit und über die A.A. in fast jeder großen Tages-
zeitung Nordamerikas. Das Verständnis der Öffentlichkeit für
Alkoholismus nahm zu. Die
58
Verachtung den Trinkern gegenüber wurde geringer, die Gemein-
schaft der A.A. wuchs. Daran konnte doch nichts Falsches sein?
Trotzdem war es aber der Fall. Um dieses kurzfristigen Nutzen
willen nahmen wir eine Schuldenlast von großen und bedrohlichen
Ausmaßen für die Zukunft auf uns.
Sofort begann ein A.A.-Freund eine Zeitschrift herauszugeben, die
einem Kreuzzug zugunsten der Prohibition gewidmet war. Er
meinte, die Anonymen Alkoholiker mussten dabei helfen, die Welt
knochentrocken zu machen. Er bekannte sich als A.A. und benutze
uneingeschränkt den Namen der A.A. um das Übel des Whiskey
und derer, die ihn herstellten und tranken, zu brandmarken. Er
wies darauf hin, dass er ein Erzieher‘ und gerade seine Art der
Erziehung von der richtigen Sorte“ sei. Er war davon überzeugt,
dass es richtig war, den Namen A.A. in die Auseinandersetzung um
die Prohibition hineinzuziehen - und er benutzte dabei eifrig den
Namen unserer Gemeinschaft. Natürlich brach er seine
Anonymität, um seiner geliebten Sache damit weiterzuhelfen.
Darauf folge nun ein Vorschlag der Vereinigung des Branntwein-
handels, ein A.A. sollte bei ihnen die Aufgabe der „ Erziehung“
übernehmen. Man sollte den Menschen einfach sagen, zuviel
Alkohol sei für jeden schlecht - und gewisse Leute, wie die
Alkoholiker, sollten überhaupt nicht trinken. Wie sollten wir uns
nun dazu verhalten?
Der Haken bei der Sache war, dass unser A.A.-Freund seine
Anonymität brechen musste. Jedes Stück seiner Veröffent-
lichungen sollte seinen vollen Namen tragen, Das musste natürlich
in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass die Anonymen
Alkoholiker die „ Erziehung“ im Stil des Branntweinhandels begüns-
tigten
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Obwohl diese beiden Entwicklungen zum Glück keine größeren
Ausmaße annehmen, waren doch die Konsequenzen, zu denen sie
führten, erschreckend. Sie machten uns Folgendes deutlich: Wenn
sich ein A.A. an eine andere Sache verkaufte und dann seine
Zugehörigkeit zu den A.A. in der breiten Öffentlichkeit erklärte, lag
es in der Macht eines einzigen A.A, die Anonymen Alkoholiker
praktisch mit jedem Unternehmen zu verheiraten und in jede gute
oder schlechte Auseinandersetzung hineinzuziehen. Je wertvoller
der Name der A.A. wurde, desto grösser mussten die Ver-
suchungen für seine Vermarktungen sein.
Nicht viel später tauchte ein weiterer Beweis auf. Ein anderer
Freund fing an, uns ins Reklamegeschäft zu verwickeln. Eine
Lebensversicherungsgesellschaft hatte ihm den Auftrag gegeben,
eine Reihe von zwölf Vorlesungen“ über die Anonymen
Alkoholiker in einer Gemeinschaftssendung aller Radiostationen
des Landes zu halten. Das würde natürlich eine Werbung für die
Lebensversicherung bedeuten- natürlich auch für unseren Freund
selbst …, das alles in einem nett aussehenden Paket zusammen-
gepackt.
Wir lasen in der Allgemeinen Dienststelle seine beabsichtigten
Vorlesungen. Sie bestanden ungefähr zu fünfzig Prozent aus
Gedankengut der A.A. und zu fünfzig Prozent aus den persönlichen
religiösen Überzeugungen unseres Freundes. Das konnte in der
Öffentlichkeit ein falsches Bild von uns geben. Religiöse Vorurteile
gegen die A.A. würden entstehen. Darum lehnten wir ab.
Unser Freund schoss uns einen hitzigen Brief zurück: „ Er fühle sich
dazu „ inspiriert“, diese Vorlesung zu halten- und es wäre nicht
unsere Sache, uns in sein Recht auf freie Rede
60
einzumischen. Obwohl er ein Honorar für seine Arbeit bekomme,
liege ihm doch allein das Wohl der A.A. am Herzen. Es sei doch
wirklich schlimm, dass wir nicht wüssten, was für uns gut sei! Wir
und der ganze Gemeinsame Dienstausschuss der A.A. sollten uns
geradeaus zum Teufel scheren: die Vorlesung würde im Radio
gehalten werden!
So stand er also in großartiger Pose vor uns. Gerade dadurch, dass
er die Anonymität brach und so den Namen der A.A. für seine
Zwecke verwendete, konnte er unsere ganzen Beziehungen zur
Öffentlichkeit in seine Hand nehmen, uns in religiöse
Schwierigkeiten bringen, ins Reklamegeschäft hineinziehen…, und
die Versicherungsgesellschaft würde ihm noch für alle diese guten
Taten ein erhebliches Honorar zahlen.
Konnte das nichtdazu führen, dass jederzeit und an jedem Ort
irgendein fehlgeleiteter A.A. unsere Gemeinschaft durch seinen
Anonymitätsbruch in Gefahr bringen und sich dabei noch einreden
würde, damit für uns viel Gutes zu tun? Wir sahen es schon vor
uns, wie sich nun jeder A.A. nach einem kommerziellen Sponsor
umsah und den A.A.-Namen gebrauchte, um alles von den
Brezeln bis zum Pflaumensaft“ zu verkaufen.
Man musste also etwas unternehmen. Wir schrieben unserem
Freund, auch die A.A. habe das Recht auf freie Rede. Wir würden
ihm nicht in der Öffentlichkeit entgegentreten, wir könnten und
würden ihm aber garantieren, dass die Lebensversicherungs-
gesellschaft mehrere tausend Protestbriefe von A.A.-Freunden
erhalten würde, wenn sein Programm über das Radio gehe. So gab
unser Freund sein Vorhaben auf. Aber der Wall um unsere
Anonymität blieb weiterhin undicht. Einige A.A. fingen an, uns in
die Politik zu verwickeln.
61
Sie begannen, den Ausschüssen der Parlamente für die Gesetz-
gebung - natürlich öffentlich - zu sagen, was gerade die A.A. auf
dem Gebiet der Rehabilitierung, des Geldes und einer erleuchteten
Gesetzgebung getan wissen wollten.
So wurden manche von uns mit ihrem vollen Namen und oft auch
mit ihren Bildern zu Interessenvertretern zur Beeinflussung von
Abgeordneten. Andere saßen mit den Richtern der Polizeigerichte
zusammen am Richtertisch und gaben ihre Ratschläge, welche der
vorgeführten Trinker zu den A.A. und welche ins Gefängnis gehen
sollten.
Dann kamen die Geldkomplikationen, die zum Bruch der
Anonymität führten. Zu jener Zeit waren bereits die meisten von
uns dafür, mit Bitten um öffentliche Geldmittel für A.A.-Zwecke
aufzuhören. Inzwischen waren jedoch die Erziehungsunternehmen
meiner von der Universität beauftragten Bekannten wie Pilze aus
dem Boden geschossen. Sie brauchte Geld für völlig richtige
legitime Zwecke - und zwar sehr viel Geld. Sie bat die Öffentlichkeit
darum und veranstaltete Sammlungen. Da sie aber zu den A.A.
gehörte und das auch weiterhin bekannt gab, gerieten manche
Geldgeber in Verwirrung. Sie argwöhnten, die A.A. würden sich auf
dem Erziehungsgebiet betätigen oder r sich selbst Geld
sammeln, obwohl das nicht der Fall war und wir es auch gar nicht
tun wollten.
So wurde also der A.A.-Name gerade in dem Augenblick dazu
benutzt, öffentliche Mittel zu sammeln, als wir den Leuten zu
sagen versuchten, dass wir kein Geld von außen her haben wollten.
Als meine Bekannte das sah, versuchte sie, da sie eine
ausgezeichnete A.A>-Freundin war, wieder in ihre Anonymität
zurückzukehren. Das war gar nicht so einfach, schließlich war
62
ihr Name durch zahlreiche Artikel in den Zeitungen weithin
bekannt geworden. Es hat Jahre gedauert. Aber sie hat dieses
Opfer gebracht - und ich möchte ihr hier herzlichen Dank dafür in
unser aller Namen sagen.
Dieser Präzedenzfall brachte alle Arten von öffentlichen Geld-
sammlungen der A.A. in Gang: Geld für Erziehungsheime, für
Unternehmungen im Zwölften Schritt, für Wohnheime, für Clubs
und Ähnliches - und hinter diesen Aktivitäten war der Bruch der
Anonymität deutlich sichtbar.
Danach erfuhren wir zu unserer Überraschung, dass wir in die
Parteipolitik, diesmal zugunsten eines Einzelnen, hineingezogen
worden waren. Ein A.A.-Freund, der sich um ein öffentliches
Richteramt bewarb, hatte seiner politischen Propaganda durch die
Tatsache, dass er A.A. war, eine besondere Färbung zu geben
versucht; daraus sollte man dann den Schluss ziehen, er sei als
Richter nüchtern! Da die A.A. in seinem Staat populär waren,
dachte er, dass würde ihm helfen, die Wahl zu gewinnen.
Wie der A.A.-Name dazu benutzt wurde, eine Verleumdungsklage
zu unterstützen, wird in der wohl besten Geschichte dieser Art
berichtet. Eine A.A.-Freundin, deren Name und deren berufliche
Erfolge in drei Kontinenten bekannt sind, bekam einen Brief in die
Hand, von dem sie meinte, er zerstöre ihr berufliches Ansehen. Sie
und ihr Rechtsanwalt, auch ein A.A, meinten, etwas dagegen
unternehmen zu müssen, in der Annahme, die Öffentlichkeit und
auch die A.A. rden mit Recht darüber aufgebracht sein, wenn
diese Dinge bekannt würden. Sofort schrieben einige Tages-
zeitungen in ihren Schlagzeilen, die A.A. machten Stimmung für
eine ihrer weiblichen Zugehörigen, damit sie ihre Verleumdungs-
klage gewinne. Natürlich wurde ihr voller Name genannt. Kurz
63
darauf erzählte ein bedeutender Radiokommentator seiner auf
zwölf Millionen geschätzten Zuhörerschaft dasselbe. Das bewies
einmal mehr, wie man den Namen der A.A. für rein persönliche
Zwecke verwenden konnte…, diesmal sogar im Bereich der ganzen
Nation.
Die alten Akten der A.A.-Zentrale berichten über viele Dutzende
solcher Erfahrungen mit gebrochener Anonymität. Die meisten von
ihnen weisen auf dieselben Ursachen hin. Sie zeigen uns, dass wir
Alkoholiker die größten Künstler der Welt sind, wenn es darum
geht, einer Sache ein schönes, vernünftig scheinendes Mäntelchen
umzuhängen. Bestärkt durch die Entschuldigung, wir leisteten
damit große Dinge für die A.A, können wir durch den Bruch
unserer Anonymität wieder im Stil unserer alten verhängnisvollen
Methode nach persönlicher Macht, nach Prestige, öffentlichen
Ehrungen und nach Geld jagen. Das ist derselbe unerbittliche
Drang, der früher unser Trinken verursachte, wenn er nicht
befriedigt wurde. Es sind dieselben Kräfte, die heute, wie es
scheint, unseren Globus in Stücke zerreißen. Außerdem machen
diese Erfahrungen deutlich, dass einflussreiche Anonymitäts-
brecher eines Tages unsere ganze Gesellschaft in ihren Ruin, in
jene unheilvolle Sackgasse hinabreißen könnten.
Wenn solche Kräfte je in unserer Gemeinschaft etwas zu sagen
haben werden, können wir sicher sein, dass wir ebenso zugrunde
gehen, wie andere Gesellschaften im Verlauf der
Menschheitsgeschichte untergegangen sind. Wir nüchtern
gewordenen Alkoholiker wollen doch nicht einen Augenblick
annehmen, so viel besser oder stärker als die anderen Menschen
zu sein… oder weil den A.A. in Jahrzehnten nichts Schlimmes
zugestoßen ist, könnte das auch nie geschehen.
Unsere große Hoffnung liegt in unserer umfassenden
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Erfahrung, die wir als Alkoholiker und als Zugehörige zu unserer
Gemeinschaft gemacht haben. So konnten wir letzten Endes auch
die ungeheure Macht dieser selbstzerstörerischen Kräften er-
kennen und aus der erteilten Lehre unsere Konsequenzen ziehen.
Diese hart errungenen Lehren haben unseren Willen gestärkt,
jedes notwendige persönliche Opfer zu bringen, um unsere hoch-
geschätzte Gemeinschaft am Leben zu erhalten.
Darum sehen wir die Anonymität auf öffentlicher Ebene als
unseren wirklichen Schutz für uns selbst an. Sie ist der Hüter
unserer Traditionen; sie ist das größte Symbol des Ich-Opfers, das
wir kennen.
Natürlich braucht kein A.A. seiner Familie, seinen Freunden und
seinen Nachbarn gegenüber anonym zu sein. Hier ist die Ent-
hüllung der Tatsachen im Allgemeinen richtig und gut. Es droht
auch keine Gefahr, wenn wir in der Gruppe oder in halböffent-
lichen Meetings sprechen, solange Presseberichte nur unseren
Vornamen nennen.
Die Gefahr für unsere Anonymität in der Öffentlichkeit liegt bei
Presse, Funk, Film und Fernsehen, wenn dort nämlich die vollen
Namen und Bilder veröffentlicht werden. Das ist der gefährliche
Durchschlupf, durch den jene fürchterlichen zerstörenden Mächte ,
die in uns allen immer noch verborgen auf der Lauer liegen, wieder
hereinkommen können. Hier soll und muss die Klappe geschlossen
bleiben.
Wir sehen nun ganz klar, dass eine hundertprozentige persönliche
Anonymität gegenüber der Öffentlichkeit für das Leben in der
Gemeinschaft genauso wichtig ist, wie eine hundertprozentige
Nüchternheit für das Leben eines jeden Einzelnen von uns. Das ist
kein aus der Furcht geborener Rat. Das ist vielmehr die kluge
Stimme einer langen Erfahrung
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Ich bin sicher, dass wir auf sie hören und jedes erforderliche Opfer
dafür bringen werden. Wir haben ja auch bis jetzt darauf gehört.
Heute sind bei uns nur noch eine Handvoll Anonymitätsbrecher
übrig.
Ich sage das mit allem mir zur Verfügung stehenden Ernst. Ich sage
das, weil ich weiß, wie groß die Versuchung nach Ruhm und Geld in
Wirklichkeit ist. Ich kann das sagen, weil ich einmal selbst ein
Anonymitätsbrecher war. Ich danke Gott, dass mich vor Jahren die
Stimme der Erfahrung und das Drängen weiser Freunde von
diesem gefährlichen Weg zurückgeholt haben, auf den ich unsere
ganze Gemeinschaft hätte führen können. So habe ich gelernt, dass
das zeitweilig scheinbare Gute oft der Todfeind des dauernd
Besten sein kann. Wenn es darum geht, die Gemeinschaft der A.A.
am Leben zu halten, ist der beste Wille gerade gut genug.
Wir wollen unsere hundertprozentige Anonymität auch noch für
einen anderen Zweck aufrechterhalten, der oft übersehen wird. Ein
wiederholter, dem eigenen Ich dienender Bruch der Anonymität
könnte, statt uns mehr Ansehen zu sichern, die ausgezeichneten
Beziehungen zur Presse und zur Öffentlichkeit ernstlich gefährden.
Wir müssen uns dann mit weniger Veröffentlichungen und mit
einem geringeren öffentlichen Vertrauen begnügen.
Viele Jahre hindurch haben Presse, Funk und Fernsehen in der
ganzen Welt begeistert über die A. A. berichtet. Das ist ein nie
endender Strom ermunternder Nachrichten, die bei weitem nicht
im Verhältnis zu den darin enthaltenen Neuigkeiten stehen.
Herausgeber und Redakteure sagen uns den Grund dafür. Sie
setzen großes Vertrauen in die A.A. und geben uns Platz und Zeit in
ihren Veröffentlichungen und Sendungen. Sie sagen, das
Fundament dieses großen Vertrauens
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sei die Betonung unserer persönlichen Anonymität gerade auf dem
Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit.
Nie zuvor hatten Nachrichtenagenturen und Experten in public
relations“ von einer Gemeinschaft gehört, die sich strikt weigerte,
für ihre Sprecher oder Zugehörigkeit persönliche Werbung zu
machen. Für sie ist diese ihnen seltsam erscheinende und
erfrischende Neuartigkeit immer ein positiver Beweis dafür
gewesen, dass es bei den A.A. vollkommen ehrlich zugeht und
niemand schräge Absichten hat.
Das ist, wie sie sagen, der wichtigste Grund für ihren guten Willen.
Darum bringen sie auch jederzeit und immer weiter die Botschaft
der A.A. in die ganze Welt. Wenn wir durch weitere
Anonymitätsbrüche selbst die Ursache wären, dass Presse, Funk
und Fernsehen, die Öffentlichkeit und unsere zukünftigen A.A.-
Zugehörigen Zweifel in unsere Beweggründe setzen würden, dann
würden wir sicher diese kostbare Vergünstigung und damit
zahllose zukünftige A.A.-Freunde verlieren. Dann würden die
Anonymen Alkoholiker keine gute Presse mehr haben. Sie würden
eine geringere und schlechtere dafür eintauschen. Darum ist die
Warnung, die Schrift an der Wand“, deutlich zu verstehen. Weil
die meisten von uns sie bereits lesen können - und die übrigen sie
bald sehen werden - bin ich voller Vertrauen, dass ein solch
finsterer Tag über unsere Gemeinschaft nie hereinbrechen wird.
Lange Zeit haben Dr. Bob und ich alles getan, was uns möglich war,
um die Traditionen der Anonymität aufrechtzuerhalten. Kurz vor
Dr. Bobs Tod regten Freunde an, ihm und seiner Frau Anne ein
passendes Denkmal oder ein Mausoleum zu errichten…, weil das
einem Gründer doch wohl zustehe. Dr. Bob lehnte dankend ab.
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Als er etwas später mit mir darüber sprach, sagte er lachend: Um
Himmels willen, Bill, warum sollten wir beide nicht ebenso wie alle
anderen Menschen begraben werden?“
Im letzten Sommer besuchte ich den Friedhof in Akron, wo Bob
und Anne ruhen. Ihr einfacher Grabstein sagt überhaupt kein Wort
über die Anonymen Alkoholiker. Das machte mich so froh, dass ich
weinte. Hat also dieses wunderbare Paar die persönliche
Anonymität so ernst genommen, dass sie es strikt ablehnten, das
Wort Anonyme Alkoholiker“ selbst auf ihren Grabstein zu ver-
wenden?
Ich meinerseits denke nicht so. Ich meine, dass dieses große und
endgültige Beispiel von Selbstbescheidung r die A.A. einen viel
länger dauernden Wert haben wird, als es jede ins Auge fallende
Berühmtheit oder ein schönes Mausoleum haben könnte.
Wir brauchen nicht nach Akron in Ohio zu gehen, um Dr. Bobs
Gedenkstein zu sehen.
Dr. Bobs wirkliches Denkmal ist über die Gemeinschaft der A.A. hin
in ganzer Länge und Breite sichtbar. Wir wollen uns noch einmal
die wahre Inschrift einprägen - es ist nur ein einziges Wort, das wir
A.A. geschrieben haben.
Dieses Wort heißt
Opfer
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69
Die Zwoelf Schritte der A.A.
1. Schritt
Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol
gegenüber machtlos sind, und unser Leben
nicht nmehr meistern konnten.
2. Schritt
Wir kamen zu dem Glauben, dass eine
Macht, grösser als wir selbst, uns unsere
geistige Gesundheit wiedergeben kann.
3. Schritt
Wir fassten den Entschluss, unseren Willen
und unser Leben der Sorge Gottes -wie wir
Ihn verstanden-anzuvertrauen
4
. Schritt
Wir machten eine gründliche und
furchtlose Inventur in unserem Inneren.
5
. Schritt
Wir gaben Gott, uns selbst und einem
anderen gegenüber unverhüllt unsere
Fehler zu.
6
. Schritt
Wir waren völlig bereit, all diese
Charakterfehler von Gott beseitigen zu
lassen.
7
. Schritt
Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von
uns zu nehmen.
70
8
. Schritt
Wir machten eine Liste aller Personen,
denen wir Schaden zugefügt hatten und
wurden willig ihn bei allen wieder gut zu
machen.
9
. Schritt
Wir machten bei diesen Menschen alles
wieder gut - wo immer es möglich war-, es
sei denn, wir hätten dadurch sie oder
andere verletzt
10
. Schritt
Wir setzten die Inventur bei uns fort - und
wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es
sofort zu.
11
. Schritt
Wir suchten durch Gebet und Besinnung
die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir
ihn verstanden - zu vertiefen.
Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen
erkennbar werden zu lassen und uns die
Kraft zu geben ihn auszuführen.
12
. Schritt
Nachdem wir durch diesen Schritte ein
spirituelles Erwachen erlebt hatten,
versuchten wir, diese Botschaft an
Alkoholiker weiterzugeben und unser
tägliches Leben nach diesen Grundsätzen
auszurichten.
71
Die Zwoelf Traditionen der A.A.
Unser gemeinsames Wohlergehen sollte an erster Stelle
stehen; die Genesung des Einzelnen beruht auf der
Einigkeit der Anonymen Alkoholiker.
2
.
Für den Sinn und Zweck unserer Gruppe gibt es nur eine
höchste Autorität - einen liebenden Gott, wie er sich in
dem Gewissen unserer Gruppe zu erkennen gibt. Unsere
Vertrauensleute sind nur betraute Diener; sie herrschen
nicht..
3.
Die einzige Voraussetzung für die A.A.- Zugehörigkeit ist
der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.
4
.
Jede Gruppe sollte selbstständig sein, außer in Dingen, die
andere Gruppen oder die Gemeinschaft der A.A. als Ganzes
angehen.
Die Hauptaufgabe jeder Gruppe ist, unsere A.A.-Botschaft
zu Alkoholikern zu bringen, die noch leiden.
6
.
Eine A.A.-Gruppe sollte niemals irgendein außenstehendes
Unternehmen unterstützen, finanzieren oder mit dem
A.A.-Namen decken; damit uns nicht Geld-,Besitz- und
Prestige-Probleme von unserem eigentlichen Zweck
ablenken.
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7
.
Jede A.A.Gruppe sollte sich selbst erhalten und von außen
kommende Unterstützung ablehnen.
8
.
Die Tätigkeit bei den Anonymen Alkoholikern sollte immer
ehrenamtlich bleiben; jedoch dürfen unsere zentralen
Dienststellen Angestellte beschäftigen.
Anonyme Alkoholiker sollten niemals organisiert werden.
Jedoch dürfen wir Dienst- Ausschüsse und -Komitees
bilden, die denjenigen verantwortlich sind, welchen sie
dienen
10
.
Anonyme Alkoholiker nehmen niemals Stellung zu Fragen
außerhalb ihrer Gemeinschaft; deshalb sollte auch der
A.A.-Name niemals in öffentliche Streitfragen verwickelt
werden.
11.
Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit stützen sich mehr
auf Anziehung als auf Werbung. Deshalb sollten wir
gegenüber Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen stets
unsere persönliche Anonymität wahren.
12
.
Anonymität ist die spirituelle Grundlage aller unserer
Taditionen, die aus uns immer daran erinnern soll,
Prinzipien ueber Personen zu stellen.
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