Der achte Schritt

 Ich rief mir alle Personen ins Gedächtnis, die ich gekränkt hatte und wurde willig, sie um Verzeihung zu bitten.

Immer wieder wird mein Blick in die Vergangenheit gelenkt.  

Komme ich denn gar nicht davon los?

Meine ersten A.A.-Freunde sagten mir doch am Anfang meiner Nüchternheit:

"Das GESTERN ist vorbei das MORGEN ist noch Illusion. Du musst das HEUTE leben!"

Weshalb soll ich nun all die alten Wunden wieder aufreißen. Ich kann es doch nicht ungeschehen machen. Es war nun einmal das Schicksal und alle Menschen, die damit verflochten waren, müssen genau so mit ihrem "HEUTE" fertig werden, wie ich.

Und war denn wirklich an allem Unglück nur meine Trinkerei schuld? Diese Frage bohrt in mir und ich erwische mich immer wieder dabei, mich bei mir selbst zu entschuldigen, statt bei den anderen.

Auch traf ich manchen Freund, der um den achten Schritt und um seine Vergangenheit einen großen Bogen machte, eines Tages betrunken wieder. Er hatte seine Vergangenheit nicht bewältigt. Er hatte sie im Unterbewusstsein vergraben, verschüttet, versteckt und hoffte immer ängstlich, dass sie dort bleibt und nie wieder zum Vorschein kommt.

Mit dem GESTERN auseinandersetzen

Aber dann, eines Tages, als er an nichts Unangenehmes dachte, da begegnete er plötzlich der geschiedenen Ehefrau, oder den von ihm getrennt lebenden Kindern, oder dem früheren Chef, oder dem Freund, der die Schuld nie gemahnt.

Da stand sie da - die Vergangenheit!

Nein - das GESTERN ist erst vorbei, wenn ich mich damit auseinandergesetzt habe. Das kann man nicht mit einem Federstrich vom Tisch wischen. Das läuft uns hinterher, - heute, - morgen, - alle Tage.

Und dann schleicht sich die Angst in uns ein:

"Hoffentlich begegne ich ihr nicht, der Vergangenheit, der geschiedenen Ehefrau, den verlassenen Kindern, den verbitterten Freunden, dem beleidigten Chef, den betrogenen Gläubigern, dem gehörnten Ehemann, der verlassenen Freundin, ihrem unehelichen Kind, der unbewältigten Vergangenheit!"

Ich hatte Angst!

Angst vor jedem Brief,  vor jedem Gang durch die Stadt, vor jedem Besuch.

Es klopft an der Tür: "Wer ist draußen?" .... die Vergangenheit!

Und dann wird die Angst größer, sie erfasst den ganzen Menschen, sie erdrückt mich, sie zerschlägt mich, sie ertränkt ihn und dann fängt ES an zu saufen,

ES - mein Unterbewusstsein!

Zugegeben, am Anfang hat es mir sehr geholfen, meine Kraft nur auf das "HEUTE" zu konzentrieren Diesem "24Stunden-Plan" habe ich es zu verdanken, dass ich überhaupt nüchtern geworden bin. Ich hätte keine weitere Belastung ausgehalten, zumal es schien, als hätte sich seit meinem letzten Schluck die ganze Welt gegen mich verbündet.

Doch nun sind einige Jahre vergangen. Jahre der Genesung. Körperlich, geistig und seelisch erwacht, fühle ich die Kraft in mir, diesen schweren Schritt zu gehen,

Ich brauche keine Liste der Personen, die ich durch mein Verhalten gekränkt hatte, denn die Namen haben sich unauslöschlich in meinem Gehirn eingeprägt. Ich habe auch in all den Jahren keinen A.A.-Freund getroffen, der zur Erfüllung des achten Schrittes eine Papierrolle bei sich trug.

Wir alle sind mit diesen Namen gezeichnet. Wir können sie nicht vergessen, wenn wir es auch wollten. Vielleicht ist mir der eine oder andere Name entfallen, doch die Person ist in meinem Unterbewusstsein verankert. Ich brauche sie nur zu rufen.

Ich  bitte alle um Verzeihung

Bei mir sind es viele Menschen und bei manchem fiel es mir verdammt schwer, ihn um Verzeihung zu bitten. Immer wieder entschuldigte ich mich, dass es doch gar nicht die Schuld des Alkohols war, der zu diesem oder jenem Schaden führte, für den ich Wiedergutmachung leisten soll.

In solchen entscheidenden Augenblicken helfen mir meine Al-Anon­Freunde weiter, die Nichtalkoholiker, Ärzte, Fürsorger, Angehörige - kurz alle Menschen, die auch nach diesem Programm leben. Von ihnen erfahre ich, dass nicht alle Fehlhaltungen vom Saufen kommen und dass andere auch ihre Schnittchen im Kerbholz haben. Auch diese Menschen bedrückt die Vergangenheit und sie haben in unserem Programm der 12 Schritte die Lösung ihrer Probleme gefunden. Ich lasse mich so gern überzeugen, dass man nun gründlich reinen Tisch machen muss, wenn man schon einmal dran ist.

Ich muss wieder einmal ehrlich sein und darf mich nicht hinter Vorbehalten verstecken. Es war schon immer leicht, den anderen zumindest eine Mitschuld anzuhängen, um das eigene Gewissen zu erleichtern. Aber das ist doch deren Problem, inwieweit sie sich mitschuldig fühlen oder nicht.

Hier geht es um mich, um meine Schuldgefühle, die ich nicht einfach verdrängen darf.  

Da sind z. B. meine erwachsenen Söhne.

Sie blieben nach der Ehescheidung bei der Mutter. Mutterhaus statt Vaterhaus. Es war nicht leicht. Für sie nicht und für mich nicht. Nachdem das Gericht der Mutter die elterliche Gewalt zugesprochen hatte, zog ich mich zurück. Ich wollte nicht "rot" sagen, wenn die Mutter "grünes Licht" gegeben hatte. Erziehen kann man nur, wenn man Vertrauen hat. Und dieses Vertrauen habe ich verspielt. So war ich als Vater abgemeldet. Das schmerzt, tut weh, denn alles hat so starke Parallelen zu meinem eigenen Elternhaus und ich wollte es doch einmal so viel besser machen als mein eigener Vater.

Doch wie kann man etwas weitergeben, was man selbst nicht empfangen hat.

Nun steht man sich hin und wieder gegenüber und alles ist so fremd, lieblos, beängstigend. Es sind längst keine Kinderaugen mehr, die mich anblicken, aber ich lese so viel unausgesprochene Vorwürfe daraus.

Werden sie mich verstehen, wenn ich sie um Verzeihung bitte?

Eine Mutter verzeiht immer

Da ist meine Mutter.

Sie hat mich immer in Schutz genommen. Sie wollte es auch nie wahrhaben, dass ihr Sohn soff. Sie hat sich und mir und der ganzen Familie immer wieder eingeredet, was für tüchtige Menschen wir sind. Bis ich zu Vaters Begräbnis die ganze Verwandtschaft unter den Tisch saufen wollte. Da schluckte sie außer den Tränen um den Verstorbenen auch noch die Scham um ihren Sohn runter.

Ich weiß noch ganz genau, mit welchen Sorgen und Hoffnungen sie mich zum ersten offenen Meeting begleitete.

Sie hat mir verziehen, mit jedem nüchternen Tag meines neuen Lebens.

Da ist die Frau.

Sie hat die Kinder allein groß gezogen.

Sie hat den Vater vertreten.

Sie hat die Konsequenzen gezogen und ließ sich scheiden.

Für mich ist die Entscheidung nicht abgetan, indem ich der Unterhaltspflicht nachkomme.

600.- DM im Monat, 7200.- DM im Jahr. 72 000.- DM im Jahrzehnt. Nein, das ist kein gutes Ruhekissen. Das täuscht mich höchstens am Tag über die Schuldgefühle, die solange bleiben, bis man endlich verzeiht.

Da ist die andere Frau.

Sie hielt mich davon ab, dass ich mich tot soff,

Sie ließ mich nicht verkommen,

Sie hielt zu mir und konnte mir doch nicht helfen.

Verzweifelt legte sie ihre ganze Liebe in die Waagschale, doch der Alkohol war stärker.

Da ist der Chef.

Er weiß heute noch nicht, welches grausame Sterben ich für ihn in meinem krankhaften Hirn ausgemalt hatte. Ich habe ihn gehasst. Er war verwünscht und natürlich allein daran schuld, dass ich aus dem Staatsdienst entlassen wurde.

Da sind die Freunde.

Sie meinten es gut mit mir und ich konnte ihnen doch nicht ehrlich begegnen. Bei jeder Freundschaft war der Alkohol der Dritte im Bunde. Und wer mein Saufen nicht akzeptierte, war für mich erledigt,

Wenn ich nun willig werde, alle diese Menschen um Verzeihung zu bitten, stelle ich mir ein recht umfangreiches Arbeitsprogramm. Dieses Wiederaufreißen seelischer Wunden - von alten, vielleicht schon vergessenen und von solchen, die noch schmerzen - mag auf den ersten Blick als ein sinn- und zweckloses Stück seelischer Chirurgie erscheinen. Wenn man aber mit gutem Willen damit begonnen hat, dann werden die großen Vorteile dieses Unterfangens bald zeigen, dass der Schmerz immer geringer wird, zumal wenn man sieht, wie die Hindernisse auf diesem Weg immer weniger werden. Man kann sich wieder frei bewegen. Man braucht keine Angst mehr zu haben, diesem oder jenem Menschen auf der Straße zu begegnen. Man wird frei sein. Diese Hindernisse haben einen sehr realen Charakter. In den Zeiträumen, wo ich über eine schwer gestörte oder zerbrochene Beziehung zu einem anderen Menschen nachdenke, stellen sich meine Gefühle auf Selbstverteidigung um. Ich will das Unrecht, das ich anderen angetan habe, nicht sehen. Statt dessen bemühe ich mich krampfhaft zu erinnern, was man mir Böses zufügte. Dies geschieht vor allem dann, wenn sich der andere Mensch tatsächlich schlecht gegen mich benommen hat. An diesem Punkt muss ich immer wieder sehr streng mit mir ins Gericht gehen. Habe ich den anderen Menschen nicht oft genug durch mein Trinken herausgefordert? Habe ich seine Geduld nicht bis zum Äußersten gespannt? Ist es da nicht verständlich, dass sich der andere wehrt, dass er seine Beherrschung verliert, dass er bös reagiert? Ich muss bei mir anfangen!

Ich darf nichts "vergessen" wollen

Nicht bei den anderen!

In der Erläuterung unserer 12 Schritte steht zu lesen:

"Manche von uns sind aber dann noch über ein ganz anderes Hindernis gestolpert. Sie klammerten sich an die Behauptung, sie hätten mit ihrem Trinken keinem anderen Menschen Schaden zugefügt, sondern eigentlich nur sich selbst. Ihre Familien hätten nichts zu leiden gehabt, da sie doch immer die Rechnungen bezahlten und nur selten daheim tranken. Ihre Geschäftskollegen wurden nicht benachteiligt, da sie sich am Arbeitsplatz meist ordentlich benommen haben und der Ruf habe auch nicht gelitten, denn sie hielten es für sicher, dass nur ganz wenige Leute von ihrem Trinken etwas wussten."

"Ein solches Verhalten ist natürlich einfach das Endresultat davon, dass man absichtlich vergessen will. Eine solche Haltung kann nur geändert werden, wenn wir unsere Motive und unsere Handlungen gründlich und ehrlich untersuchen."

Wenn ich diese Sätze lese, muss ich unwillkürlich an das geschlossene Meeting beim Ländertreffen in Frankfurt denken, Hier trafen die Meinungen einiger Freunde hart aufeinander, inwieweit man vergessen kann. Ich persönlich bin der Ansicht, dass man nur dann seine Sache als erledigt betrachten kann, wenn man sie wirklich erledigt hat. Und um meine Angelegenheiten ins Reine zu bringen, muss ich mich für den achten und neunten Schritt bereit halten. Mit Hilfe dieser beiden Schritte bewältige ich meine Vergangenheit. Erst wenn ich wirklich alles unternommen habe, meine Fehler wieder gut zu machen und die gekränkten Mitmenschen um Verzeihung bat, kann ich Gras über die Sache wachsen lassen.

Eine gute Hilfe für HEUTE

Letztlich hilft mir dieser Schritt auch im "JETZT" meine mitmenschlichen Beziehungen zu verbessern, Wenn ich mir alle die Charakterzüge und Fehlhaltungen ins Gedächtnis rufe, die während meiner nassen Zeit andere Menschen kränkten, treffe ich gleichzeitig die beste Vorsorge, diese Fehler heute nicht zu wiederholen.

Ich will mich dabei stets an die Regel halten, dass ich Dinge, die ich selbst tat, offen zugebe, während ich aber gleichzeitig alles Unrecht, das ich wirklich oder vermeintlich erlitten habe, willig verzeihe.

Ich darf dabei weder meine, noch die Fehler der anderen übertreiben, sondern muss mich bemühen, alles ruhig und objektiv zu betrachten. Dabei hilft mir mein Leitspruch:

GOTT -  gib mir die Gelassenheit, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann; den Mut, die Dinge zu ändern, wenn ich es kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."

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