Der sechste Schritt

Ich war bereit, die Fehler meines Charakters durch Gott beseitigen zu lassen.

Durch eine gründliche Inventur meines Innern versuche ich, mich selbst zu erkennen.

Meine Fehler sind Charaktermängel, die mein Leben in der menschlichen Gesellschaft immer wieder negativ beeinflussen.

Es ist mir unbequem diese Fehlhaltungen einzugestehen.

Seit es mir aber klar wurde, dass ich mit Selbstverleugnung und Selbstbetrug nicht zufrieden nüchtern werden kann, versuche ich ehrlich zu sein.

Ehrlichkeit ist die erste Voraussetzung zur Nüchternheit.

Solange ich mir selbst über mein Ego etwas vormache, solange ist meine Nüchternheit erzwungen und verkrampft. Ich bin zwar trocken, aber ich kann noch lange nicht klar sehen.

Durch meine Kehle fließt zwar kein Alkohol, aber mein Gehirn verharrt im alkoholischen Denken.

Und wenn ich nicht täglich intensiv an mir arbeite, geht es nicht vorwärts. Dann bleibe ich stehen und beginne mein alkoholisches Denken für normal zu halten. So verbreitet sich die Krankheit hinterlistig im Geist und ich bin der Letzte, der merkt, dass ich selbst geistig krank bin.

Lügen haben kurze Beine

Um mich selbst zu erkennen, ist es notwendig, dass ich mir meine Fehler unverhüllt eingestehe und sie auch gegenüber Gott, so wie ich Ihn verstehe, und einem anderen Menschen ehrlich zugebe.

Aber was ist damit getan?

Kann ich mich dadurch von meinen Fehlern befreien?

Ich weiß zwar nun, was ich alles falsch mache und wo meine Schwächen liegen, doch meine Mitmenschen wussten es schon lange vor mir. Immer wieder ertappe ich mich bei den Wiederholungen meiner Fehlhaltungen. So bemühe ich mich wirklich krampfhaft, immer nur die Wahrheit zu sagen und trotzdem erwische ich mich gelegentlich beim Lügen. Oft lüge ich nur, weil es bequemer ist. Ich meine, ich spare mir eine ganze Menge Unannehmlichkeiten, wenn ich ein Erlebnis oder eine Begebenheit mit einer Lüge vereinfache. Hinterher muss ich dann einsehen, dass ich falsch gehandelt habe und das nun aus der Lüge heraus eine Situation erwachsen ist, die ich gar nicht gewollt habe.

Es sind plötzlich neue Unannehmlichkeiten entstanden und mache ich den Fehler, weiter zu lügen statt zuzugeben.

Aus der Verlegenheitslüge wird handfestes Seemannsgarn, aber das gesponnene Gewebe wird immer fadenscheiniger und bald fällt alles wie ein Kartenhaus zusammen.

Dann steht man da - im kurzen Hemd - und hat sich wieder einmal selbst auf den Schwanz getreten.

Statt sich nun bereit zu halten, diese Fehler von Gott beseitigen zu lassen, ist man mit sich selbst unzufrieden und überhäuft sich mit Vorwürfen.

Aus dieser Unzufriedenheit heraus erwächst eine neue Fehlhaltung. Man wird gereizt, spürt eine gewisse Wut hochsteigen und ärgert sich über jenen Menschen, der das Kartenhaus zum Einsturz brachte.

Man ärgert sich weil man sich durch die Aufdeckung der Lüge bloßgestellt sieht. So meint man nun alles Vertrauen verspielt zu haben und zieht sich schmollend zurück. Der Ärger bleibt. Er schürt die Wut. Aus Wut entsteht Hass und bald stellt man fest, dass man jenen Freund, der uns in das Lügengewebe verstrickt hat, nicht mehr leiden kann. Wir werden intolerant und reden uns bald ein, dass wir doch so unrecht gar nicht hatten.

Schließlich vergessen wir, dass wir es doch selbst waren, die sich in diesen Irrgarten begaben.

Schon erwische ich mich wieder bei der Feststellung, dass ich das doch alles gar nicht nötig habe. Was soll ich mich denn mit solchen Menschen abgeben. Wer sind die denn schon. Dem einen seine Nase steht mir sowieso nicht und den anderen kann ich nicht riechen. Schließlich blicke ich doch hier mehr durch, als alle anderen. Und wenn die Kameraden zu doof sind, das zu kapieren -  nun dann wird man doch alles mit einer Notlüge vereinfachen dürfen.

Fehlhaltungen des Unterbewusstseins 

Statt bereit zu sein, diese Überheblichkeit, diese Selbstüberschätzung, dieses Eingebildetsein durch Gott beseitigen zu lassen, bleibt man arrogant, selbstgefällig und hochnäsig.

Sicher kann man sich selbst erziehen und versuchen, diese schlechten Eigenschaften zu unterdrücken. Mir geht es aber oft so, dass es meistens schon zu spät ist, wenn ich feststelle, dass das Kind in den Brunnen gefallen ist. Meist ist etwas geschehen, was ich gar nicht wollte und ich überlege mir, wie es geschehen konnte. So entdecke ich dann, dass ich dieses oder jenes peinliche Geschehnis nicht bewusst eingeleitet habe. Es war etwas instinktives, unbewusstes, was mich in die Fehlhaltung trieb.

Ich lüge unbewusst, ich ärgere mich unbewusst und ich hasse instinktiv. Kann ich mich selbst davon befreien?

Vielleicht kann ich mithelfen, dass ich diese negativen Einflüsse zu unterdrücken versuche, aber bin ich denn für allem Unterbewusste verantwortlich? Habe ich hier noch Einfluss? Nach meiner persönlichen Meinung umfasst mein Unterbewusstsein alles, was ich mit meinem klaren Bewusstsein nicht mehr erfasse. Hier speichert sich die Lebenserfahrung seit meiner Kindheit und vielleicht reagiere ich heute auf diese oder jene Situation noch mit einer Lüge oder Ausrede, weil ich da mit in meiner Kindheit scheinbar mehr Erfolg hatte, als mit der Wahrheit.

Vielleicht ist mir mancher Mensch schon weitem unsympathisch, weil ich als einen ähnlich aussehenden Menschen unausstehlich fand?

Wahrscheinlich glaube ich oft, ich wäre etwas besseres als meine Mitmenschen, weil mir meine Eltern während meiner ganzen Schulzeit eintrichterten, ich müsste besser sein als meine Mitschüler?

Möglicherweise kommt in mir Neid und Missgunst hoch, weil meine Eltern unseren Nachbarn kein besseres Leben gönnten?

So neige ich zu der Erkenntnis, dass sich viele meiner Fehlhaltungen bereits durch Vererbung, durch frühkindliche Erlebnisse und durch die Erziehung in mein Unterbewusstsein eingeprägt haben. Und so kommt es zu instinktiven Reflexen: zu Lügen, zur Überheblichkeit, zum Zorn, zur Unmäßigkeit, zum Neid, zur Trägheit, zum Egoismus und zur Unkeuschheit. Das sind alles Fehlhaltungen, die ich mit meinem Wachbewusstsein nicht 100-prozentig steuern kann. Fehlhaltungen, die ich meist erst erkenne, wenn es schon passiert ist.

Durch eiserne Arbeit an mir selbst kann ich nun meinen Verstand dazu bringen, sofort höchste Alarmstufe zu geben. Ich kann an mir arbeiten, dass ich aufgetretenes Unrecht sofort zugebe. Aber kann ich die im Unterbewusstsein stattfindende Entstehung des Unrechtes verhindern?

Ich glaube, dazu bin ich nicht allein imstande.

Ich glaube, dass nur eine Kraft, die größer ist als ich selbst, mich von meinen Charakterfehlern befreien kann.

Und ich glaube, dass nur Gott, so wie ich ihn verstehe, auf mein Unterbewusstsein Einfluss hat.

Bestärkt wurde ich in diesem Glauben dadurch, dass ich Gott ja auch mit meinem Wachbewusstsein, d. h. mit meinem Verstand nicht erfassen kann. Nur mein Unterbewusstsein sagt mir, dass es eine höhere Kraft gibt, die selbst einmal meine Programmierung übernommen hat. So sehe ich Gott in Dir, in mir und in jedem Lebewesen. Er ist der Grund unseres Seins. Und wenn sich danach durch meine Erlebniswelt Fehlhaltungen in meinem Charakter entwickeln, wenn dieser Lebensbaum nicht kerzengerade in den Himmel wächst, so kann nur Gott, wie ich ihn verstehe, diese Fehler beseitigen.

Doch dazu muss ich bereit sein. Und diese Bereitschaft fordert der sechste

Menschliche Reife durch Glauben 

Noch Jahre nach meinem letzten Schluck fehlte mir diese Bereitschaft. Ich glaubte es allein zu schaffen. Ich war noch nicht reif.

Die menschliche Reife erweist sich erst mit der Einsicht, dass der Glaube an Gott Charakterfehler beseitigen kann,

Bei mir wurde diese Einsicht deutlich, als ich am Tiefpunkt meines Lebens doch die Kraft erhielt, mich von der tödlichen Trunksucht zu befreien. Nachdem alle täglich gefassten Vorsätze nicht geholfen haben, fand ich plötzlich eine Hilfe von außen.

Heute, weiß ich, dass es kein Zufall war.

"Zufall" oder "Höhere Kraft" ? 

Damals erschien mir alles noch als eine Kette glücklicher Umstände. Ich wurde krank und mein Hausarzt stellte die Diagnose "Vegetative Dystonie". Er schickte mich zur Kur und dort beleidigte mich der Kurarzt mit den Worten: "Sind Sie Alkoholiker?"

Ich war tief gekränkt, denn schließlich versuchte ich vor jeder Visite krampfhaft meine Fahne zu beseitigen.

Bald stellte sich heraus, dass jener Kurarzt seine Vermutung nicht nur auf meine Kaninchenaugen und den zitternden Händen aufbaute, sondern auf Grund seiner früheren Tätigkeit in einer Trinkerheilstätte große Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt hatte.

Zufall?

Nach tagelanger psychotherapeutischer Vorbehandlung wurde ich von ihm an die Decke geschossen......... 4, 3, 2, 1 - klatsch!

Als ich wieder zu mir kam, stand ein "Anonymer Alkoholiker" in meinem Krankenzimmer und brachte mir die Botschaft der A.A..

Zufall?

Nachdem ich jahrzehntelang jede Anspielung dritter Personen auf mein Saufen energisch vor mir wies, wurde ich plötzlich bereit, einem wildfremden Menschen zuzuhören.

Zufall?

Nein!

Heute weiß ich, dass Gott eingegriffen hat und ich Ihm mein neues nüchternes Leben verdanke.

Warum sollte ich aber nun, nachdem ich die Befreiung vom Alkoholismus erlangte, nicht auch eine Befreiung von allen anderen Schwierigkeiten und Fehlern erlangen?

Dabei ist mir völlig klar, dass die Beseitigung der übrigen Charaktermängel auch seine Zeit braucht, dass auch hier ständig Rückfälle auftreten. Aber durch meine Bereitschaft kann ich diese Genesung beschleunigen. Vieles ist nun Ieichter als die Befreiung von der Trunksucht, denn nun kenne ich dieses wunderbare Programm der A.A. und muss nur bereit sein, es anzunehmen. Damals wollte ich ja auch von Gott nichts wissen, denn ich hatte ja meinen Tröster stets bei mir.

Offen gestanden ist auch heute mein Glaube an die höhere Kraft nicht unkompliziert. Besonders wenn es mir recht gut geht, vergesse ich jene Kraft, die größer ist als ich selbst und der ich meine Zufriedenheit verdanke. Ich freue mich, hin gut gelaunt und schaue gelassen in den Tag. Erst wenn ich dann am Abend vor dem Einschlafen über den Tagesablauf nachdenke und Inventar mache, bekomme ich ein schlechtes Ge wissen.

Habe ich das nicht alles meinem Gott zu verdanken? Dass ich nüchtern bin, dass ich satt bin und dass ich wieder Erfolg habe?

Und wenn ich dann nicht gleich Kontakt zu Gott erhalte, dann kommen die Zweifel an seiner Existenz. Diese Zweifel treiben mich zur Unvernunft. Wie kann ich plötzlich ungeduldig nach Gott verlangen, wenn er mir den ganzen Tag gestohlen bleiben konnte? Ist jene Kraft den nur für mich da? Habe ich die Zufriedenheit allein gepachtet?

Langsam hole ich mich dann wieder auf den Teppich der Wirklichkeit und bereue meine Unvernunft und Schwäche.

Indem ich meine Fehler eingestehe, komme ich Gott näher und beruhigt falle ich in den Schlaf.

Zufriedene Nüchternheit am Lebensende

Vielleicht mag nun der eine oder andere Leser der Meinung sein, es sei utopisch nach Vollkommenheit zu streben. Schließlich gäbe es auf der ganzen Welt keinen Menschen, der nur gute und positive Charakterzüge aufweist. Diese Freunde verstehen den Sinn dieses Schrittes falsch.

Jeder Mensch, der sich ein Ziel setzt, ist selbst noch mehr oder weniger weit von diesem Ziel entfernt. Er muss hart arbeiten, trainieren und sich gesund halten, wenn er sein gestelltes Ziel erreichen will. Falsch wäre es auf der Lebensleiter auszuruhen. Stillstand bedeutet Rückfall.

Man muss stets weiterstreben, um das zu erhalten, was man erreicht hat, bis dass der Tod eine Grenze setzt.

Und an dieser Grenze steht bei mir die zufriedene Nüchternheit. So will ich einmal einschlafen und vor meinen Herrn treten. Nicht mit blütenweißer Weste der Vollkommenheit, sondern mit den Spuren getilgter Schuld und bereinigter Fehlhaltungen.

Deshalb muss ich mich heute bereit halten, die Fehler meines Charakters von Gott beseitigen zu lassen.

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