Der fünfte Schritt

 Ich gab Gott, mir selbst und einem anderen Menschen offen und ehrlich meine Fehler zu.

 
Klatsch zerstört Freundschaften

Erschüttert hatte ich das Ausmaß meines Trümmerhaufens festgestellt.

Rund herum sah es aus, wie nach einem Müllarbeiterstreik in London.

Ich ekelte mich vor mir selbst.

Am liebsten hätte ich die Scherben heimlich zusammengeschaufelt und irgendwo im Meer versenkt.

Schön, ich hatte viele Fehler gemacht und die Karre in den Dreck gefahren, aber was ging das andere Menschen an.

War es denn nicht damit abgetan, dass ICH alle meine Fehler erkannt hatte?

Um ehrlich zu sein, ich gab mir zunächst einmal ungeheure Mühe, diese Fehler zu vertuschen. Nach einiger Zeit glaubte ich bald selbst wieder daran, nicht so schlecht zu sein, wie jener, den man gerade zur Entziehungskur eingeliefert hat.

Schließlich habe ich noch keinen Menschen tot gefahren und Unfallflucht begangen!

Schließlich war ich noch nicht kriminell geworden!

Ich vergaß dabei, dass oft nur ein kleiner Schritt gefehlt hatte, um die Bekanntschaft mit dem Staatsanwalt zu machen.

Ein kleiner Schritt, vor dem mich meist meine Familie und meine Freunde gegen meinen eigenen Willen zurückgehalten haben.

Es gibt keine "besseren" Alkoholiker

Für mich gibt es heute keine besseren und keine schlechteren Alkoholiker, sondern nur alkoholkranke Menschen und ich gebe mir Mühe, jeden so anzunehmen, wie er ist. 

Je länger ich nüchtern blieb, desto deutlicher erkannte ich meine Fehler und desto schwerer wurde es mir, sie einzugestehen. 

Irgend etwas in mir lehnte sich dagegen auf.

Statt zuzugeben, suchte ich nach Entschuldigungen. Das war typisch für meine alkoholische Denkungsart.

Und als ich schließlich so weit war, alles selbst einzusehen, wollte ich das schön für mich behalten, denn was ging das andere Menschen an. Im Gegenteil. Lief ich nicht in Gefahr, mein neu aufpoliertes Image wieder zu verlieren? Wo bleibt mein Ansehen, wenn ich einem guten Freund oder einem sehr nahe stehenden Menschen meine Fehler aufs Butterbrot schmiere?

Wofür soll das gut sein?

Man hatte mich nicht verstanden, als ich damals trank. Viel weniger würde man mich verstehen, wenn ich nun nüchtern zugab, was ich alles falsch gemacht hatte.

Gerade jetzt, wo ich dabei war, meine Position im Beruf und in der Familie wieder zu festigen, kann ich mir doch keine Blöße geben, indem ich meine Schwächen offen an den Tag lege.

Als ich mit meinen A.A.-Freunden darüber sprach, klärte man mich auf, dass ich schon wieder auf dem Holzweg war.

Der fünfte Schritt verlangt nicht, dass ich z. B. im Beruf einen Vorgesetzten oder Kollegen auf meine schwachen Punkte aufmerksam mache. Abgesehen davon werden die menschlichen Schwächen von Leuten, mit denen man täglich zusammen ist, oft eher erkannt, als man sie selbst wahrhaben will.

Der fünfte Schritt verlangt auch nicht, dass man nun in der Familie demütig zu Kreuze kriecht und unterwürfig leidet.

Sicher wird manche Frau glücklich sein, endlich einen Mann zu haben, der seine Männlichkeit nicht mehr durch Saufen beweist, sondern indem er wieder klare Entscheidungen trifft. Doch oft ist es vielleicht nicht angebracht, seine Schwächen und Fehler "an die Frau" zu bringen, da die Gefahr besteht, dass dies von der anderen Seite ausgenutzt wird.

Mit der erkämpften Trockenheit sind ja die Familienprobleme keinesfalls vom Tisch. Im Gegenteil

Oft sträubt sich der Partner mit Händen und Füßen dagegen, seine Position aufzugeben. Eine Position, die er während unserer akuten Alkoholkrankheit einnehmen musste, damit die Familie nicht auseinander fiel. Hatte nicht oft die Frau die Hosen an und den Daumen auf dem angetrunkenen Herrn der Schöpfung?

Und nun will sie die Hosen nicht mehr ausziehen!

Nun versucht sie immer wieder, den Daumen drauf zu legen.

Und das kann ich auch heute noch nicht vertragen. Ich will frei sein. Frei vom Alkohol und frei in meinen Entscheidungen.

Die anderen sind auch keine Engel

Manche Ehefrau will aber den nüchtern gewordenen Ehemann genau noch so beherrschen, wie den besoffenen, dem es sein schlechtes Gewissen nicht erlaubte, sich zu wehren.

Und da gehe einer hin und lege seine Schwächen zu ihren Füßen.

Wir müssen uns klar sein, dass unsere Mitmenschen auch nicht alle Engel sind. Oft waren wir ja selbst die Ursache, dass der nahe stehende Freund oder Partner so verbittert und verhärtet geworden ist. Ist es nicht verständlich, dass auch er sich Fehlhaltungen aneignete, die er einfach notwendig hatte, um zu überleben?

Der Partner braucht AI-Anon

Man sagt mit voller Berechtigung, dass ein Alkoholkranker im Durchschnitt vier bis fünf nahe stehende Menschen ansteckt, d. h. krank macht und ins Unglück zieht. Der so entstehende seelische, körperliche und soziale Schaden ist für die Angehörigen unerträglich. So brauchen auch unsere nahe stehenden Mitmenschen eine Therapie, die ihnen ihre Gesundheit wiedergeben kann. Oft haben sie es dabei wesentlich schwerer als der Alkoholpartner, denn sie leiden unter der ständigen Angst eines erneuten Rückfalls.

Kann man ihnen verdenken, wenn sie der ganzen Entwicklung mit Misstrauen gegenüberstehen?

Wie oft sind sie schon durch uns enttäuscht worden.

Jede Kraft und jede Hoffnung verbraucht sich, wenn sie nicht genährt wird.

Deshalb sollten wir unsere Angehörigen den Familiengruppen der Anonymen Alkoholiker zuführen, der Gemeinschaft AI-Anon. Hier finden sie einen Weg für ihre Genesung und später vielleicht auch Verständnis für unsere Fehler und Schwächen.

Das soll aber nicht heißen, nun abzuwarten, bis sich der andere Mensch so weit geändert hat, dass er für mich zum geeigneten Objekt des fünften Schrittes wird.

Hier, wie in allen anderen Fällen, sollten wir Alkoholiker den Wahlspruch unserer Freunde in Al-Anon annehmen

Fang bei Dir selbst an!

Es bleibt weiter zu überlegen, ob man den fünften Schritt nicht einfach in einem geschlossenen A.A.-Meeting absolviert.

Aus Erfahrung warne ich davor.

In jeder Gruppe gibt es unterschiedliche Menschen, z. B. Alkoholiker, welche die notwendige Reife noch nicht erreicht haben. Menschen, die bestimmte Fehlhaltungen noch nicht beherrschen können. Eine der schlimmsten dieser Fehlhaltungen ist die Klatschsucht.

Ich habe immer wieder Klatschtanten (und Onkel) erlebt, die gerade nur dann ein Meeting von persönlichem Interesse finden, wenn man über die Rückfälle und Fehler von Freunden herziehen kann, die gerade nicht anwesend sind.

Ich habe es erlebt, wie man aus Klatschsucht Begebenheiten aus einem A.A.-Meeting einer Ehefrau oder einem Ehemann zutrug und damit unserer Gemeinschaft schweren Schaden zufügte.

Ein neuer Freund, der sich an A.A. wie an einen Strohhalm klammert, muss so jedes Vertrauen verlieren.

Klatsch zerstört Freundschaften

Ich habe erlebt, wie Alkoholiker glaubten, der Ehefrau eines anderen A.A.-Freundes dadurch helfen zu können, dass sie mit ihr über die Fehler und Schwächen des Ehemannes sprachen.

Solche Gespräche dienen dazu, die Atmosphäre in A.A. zu vergiften und doch zeigen sie uns, wie schwach und dumm wir sind.

Ich schließe mich da nicht aus.

Ich bin selbst durch die Erfahrung, der Ehefrau eines Alkoholikers helfen zu wollen, hoffentlich klüger geworden.

Heute weiß ich, dass mein Geist dafür nicht einsetzbar war. Ich hatte im zwölften Schritt an einem alkoholkranken Freund versagt und wollte diese vermeintliche Niederlage bei seiner Frau wieder gut machen.

Al-Anon und A.A. sind zwei Parallelen

Finger wegl  Das soll mir nie wieder passieren.

Das ist  eine Angelegenheit für AI-Anon und deshalb brauchen wir Al-Anon.

Ich kann den fünften Schritt nicht für einen anderen tun.

Ich muss bei mir selbst anfangen.

Der Schritt besagt, dass man sich nur einem anderen Menschen offenbaren soll und das hat seinen tiefen Grund.

Wir alle kennen das Sprichwort: "Geteiltes Leid ist halbes Leid"

Nach diesem Motto befreien wir uns von einem Leid, das wir in uns fühlen, nachdem wir uns selbst auf dem Trümmerfeld unserer Fehlhaltungen im Spiegel so wiedersehen, wie wir wirklich sind.

Wenn wir dieses Leid selbst runterschlucken und verdauen wollen, oder verschweigen und verleugnen, dann sind wir drauf und dran uns eine weitere seelische Belastung, die zur Neurose oder zum nächsten Schluck führt, einzuhandeln.

Beichte schützt vor Neurose

Es ist zwar nicht meine eigene Erfahrung, doch kann ich mir gut vorstellen, dass viele Menschen heute noch den Beichtstuhl der Kirche betreten, um sich mitzuteilen, um ihre Sünden und Fehler abzuladen.

Obwohl ich nicht katholisch bin, glaube ich sagen zu dürfen, dass ein viel benutzter Beichtstuhl dazu beiträgt, dass die Wartezimmer der Psychiater und Psychotherapeuten nicht über laufen.

Ich empfinde es bestimmt nicht als Konfessionsfrage, wenn man den. fünften Schritt bei einem Pfarrer absolviert. Das muss jeder selbst entscheiden. Zumindest hat man die Gewähr, dass der Seelsorger das Beichtgeheimnis wahrt.

Das schützt unsere Anonymität.

Doch für mich tat sich ein anderer Weg auf.

Ich hatte das Glück, einen Arzt kennen zu lernen, der für meine Probleme ein offenes Ohr hatte und der mir als Psychotherapeut wertvolle Hilfestellung gab.

Hier wusste ich auch, dass meine Offenbarung diskret und verschwiegen behandelt wurde und ich bekam sogar noch fachmännische Hilfe und Ratschläge, wie ich mein Verhalten ändern müsse.

Dieser Arzt war aber nicht der einzige Mensch, dem ich mein Vertrauen schenkte.

Im Laufe der Zeit lernte ich bei A.A. nüchtern gewordene Alkoholiker kennen, denen ich in langen Gesprächen unter vier Augen meine Probleme vortrug. Meine Freunde hörten mich geduldig an und gaben mir schon damit Hilfe, denn ich konnte mich freisprechen. Dadurch, dass sie sich dann noch selbst mit mir identifizierten und zugaben, dass sie bereits mit ähnlichen Problemen behaftet waren, vermittelten sie mir Kraft und Hoffnung.

Sie zeigten mir einen Weg, den sie selbst beschritten.

Und auf einem Meilenstein am Wegesrand stand das Wort

Demut

Ich fand diese Freunde in Düsseldorf und in Bad Reichenhall und ich bin überzeugt, dass sich für jeden Alkoholiker, der diesen Schritt ernst nimmt, ein solcher Freund findet.

Für den Neuen ist diese Freundschaft sehr wichtig. Sie ist mehr, als die zum Überleben notwendige Kameradschaft innerhalb einer A.A.­Gruppe. Sie ist eine echte Patenschaft, die ein erfahrener A.A. bei dem Hilfe suchenden neuen Freund übernimmt. Man bezeichnet ihn deshalb im A.A.-Sprachgebrauch als "Sponsor".

Meist entwickelt sich diese Freundschaft und das Vertrauen zwischen dem hilfebedürftigen meist noch nassen Alkoholiker und jenem A.A., der ihm zum ersten Mal die rettende Hand reicht. Der ihn führt und die ersten Trockenkurse lehrt. Der für ihn Tag und Nacht da ist und mit ihm bangt und leidet.

Der Sponsor als Beichtvater

Dieser Sponsor lernt den Hilfe suchenden Menschen in seiner tiefsten Not kennen und kann wohl deshalb später meiste Verständnis für ihn aufbringen.

Er bietet sich direkt ideal für die Erfüllung dieses Schrittes an.

Doch nun fehlt noch der Dritte im Bunde; und das ist Gott, so wie ich Ihn verstehe,

Er ist für mich immer erreichbar, vor allem, wenn ich ganz allein bin.

Ich muss nur wissen, wie ich mit Ihm in Kontakt komme; wie die Verbindung zustande kommt.

Nur in Demut bekomme ich Kontakt

Früher hatte ich damit große Schwierigkeiten und verzweifelt gab ich auf. Selbstverständlich war ICH nicht daran schuld, sondern scheinbar gab es für mich keinen Gott.

Heute bin ich eines besseren belehrt. Heute kenne ich den Schlüssel zu seiner Tür.

Es ist die vorher bereits erwähnte Demut. 

Nur in Demut kann ich meinen Schöpfer erkennen, indem ich mein eigenes ICH herabsetze, indem ich mir selbst all meine Fehler eingestehe. So wird er mich hören und so verstehe ich das Beten.

"Beten" kommt nicht von "Bitten", sondern ist ein Wortbegriff für jede innige Zwiesprache mit jener Kraft, die größer ist als ich selbst. Und nur wenn ich bereit bin, wenn ich demütig von meinem hohen Ross absteige und in mich gehe nur dann bekomme ich Kontakt.

Dieser Kontakt, dieses Erlebnis, dass ich mit Menschen um mich und mit Gott in mir eins werde, befreit mich von der Bedrückung, die mir alle meine Fehler auferlegen.

Ich gewinne neue Hoffnung, ich werde frei.

So frei, dass es mir heute leichter fällt auch dem oder jenen Menschen meine Fehler offen zuzugeben, denn das führt schließlich zur gegenseitigen Achtung und zur Achtung vor sich selbst.

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