Der vierte Schritt

 Ich machte ohne Furcht eine gründliche Inventur meines Innern


Ich danke Gott, dass ich kein Staatsanwalt geworden bin.
Ich hätte sonst viel zu tun. Mit mir!

Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung

Nach diesem Motto versuchte ich meine Inventur.

Es wurde verdammt schwer.

Schwer, weil ich immer wieder vor eine Mauer rannte, auf der in großen Buchstaben stand:

"WARUM HABE ICH GETRUNKEN?" Meine A.A.-Freunde gaben mir am Anfang meiner Nüchternheit den Rat, meinen Geist nicht an diesem "WARUM?" zu strapazieren,

Ich hätte auch am Anfang keine wahre Antwort finden können, denn mein Geist war viel zu krank, um hier klar durchzublicken.

Ich ertappte mich immer wieder, wie ich die Schuld auf andere schob.

    Damals meinte ich, meine Frau war schuld, dass ich soff. Was sollte ich denn anders tun, wenn sie sich mir verweigerte. Was bleibt denn einem Mann übrig, dessen Frau im Bett nichts mehr von ihm wissen will?

    Soll er fremd gehen?

    Soll er sich eine Geliebte suchen?

    Da war es doch anständiger ins Wirtshaus zu gehen und seinen Kummer runterzuspülen, Die Saufkumpane verstanden mich wenigstens.

    Heute weiß ich, dass sich meine Frau verweigerte, weil sie sich vor meiner Alkoholfahne ekelte. Weil es sie abstieß einen klatschnass geschwitzten Mann im Bett zu liebkosen. Weil sie mein Gelalle und läppisches Gefummle keineswegs als Liebesspiel empfand.

    Damals meinte ich, mein Chef war schuld, dass ich soff. Ich hatte so einen schönen Posten im technischen Außendienst einer Behörde. Ich war mein eigener Herr. Und auf einmal sollte ich dafür nicht mehr geeignet sein?

    Ich sollte plötzlich am Schreibtisch verkümmern?

    Das konnte ich nicht ertragen!

    Heute weiß ich, dass ich mit meinem narkotisierenden Atem für den Außendienst nicht mehr tragbar war. Weder am Steuer eines Dienstwagens, noch beim Besuch der Kunden.

    Damals meinte ich, die Dienstaufsichtsbehörde war schuld, einen so guten Beamten, wie ich es war, auf die Straße zu setzen.

    Heute weiß ich, dass ich das meiner Sauferei zu verdanken hatte.

    Damals    war mir schon alles gleich, als sich meine Frau scheiden ließ, während meine schwangere Freundin einen Selbstmordversuch unternahm. Ach wie habe ich mich bedauert und betröpfelt.

    Heute weiß ich, dass ich gegenüber dem Alkohol machtlos war und mein Leben nicht mehr meistern konnte.

Aber all das braucht seine Zeit. Ich bekam diese Erkenntnis nicht an dem Tage, da ich das erste Glas wegließ.

Da war es für mich viel zu gefährlich, an die Vergangenheit zu denken. Wie leicht wäre ich wieder gekippt.

Nach meiner persönlichen Erfahrung sollte ein Alkoholiker erst dann mit seiner Inventur beginnen, wenn er sich stark genug fühlt, d. h. wenn er ein gesundes festes A.A.-Polster unter dem Hintern hat.

Ich kenne einige Freunde, die an ihrer Inventur gescheitert sind und hoffnungslos ertranken. Deshalb sprechen wir auch zu unseren neuen Freunden: 

"Das Gestern ist vorbei, das Morgen ist noch Illusion, auf das Heute, auf diese 24 Stunden kommt es an."

Wir raten ihm, einen Strich unter seine Vergangenheit zu machen und neu zu beginnen.

"Lass Dir Zeit, lieber Freund, sonst sitzt Du vor der Flasche und sinnierst, weshalb Du trinkst!" Das führt zu keiner Lösung! Das ist Gefahr! Und das führt auch zu keiner Nüchternheit!

Es wäre aber verkehrt, wenn man daraus schließen wollte, die anonymen Alkoholiker lehnen mit ihrem 241-Stunden-Programm jeden Gedanken an die Vergangenheit, jede Ursachenforschung, ab.

Das kann ich für mich keinesfalls behaupten.

Für mich war der 24-Stunden-Plan der erste Teil dieses wunderbaren Programms, der mich trocken werden ließ. Die Nüchternheit kam Jahre später und erst dann wagte ich mich an alle 12 Schritte.

Was unterscheidet denn diesen 4. Schritt von einer Ursachenforschung? Ist nicht die nüchterne Selbsterkenntnis die erste Voraussetzung für die Beantwortung des "WARUM"'?

Natürlich stellte sich auch mir die Frage, weshalb soll man denn in der Vergangenheit herumwühlen und danach forschen, weshalb man nun eigentlich gesoffen hat. War es nicht besser, alles ruhen zu lassen und versuchen neu anzufangen?

Ich wurde bald belehrt.

Es war wieder ein Arzt, der mir klarmachte, dass mein unkontrolliertes Trinken auf Fehlhaftungen und Fehlveranlagungen zurückzuführen ist. Und wenn ich meine Fehler nicht erkenne, wenn ich meine Veranlagung nicht erkenne, wenn ich nicht an mir arbeite, dann besteht die große Gefahr, dass ich das Vergangene wiederhole und dadurch wieder auf die Nase falle.

Deshalb mache ich Inventur.

Deshalb versuche ich mich selbst zu erkennen.

Deshalb brauche ich den 4. Schritt.

Selbsterkenntnis durch Gruppentherapie

Bei dieser Selbsterkenntnis halfen mir die Erfahrungen vieler A.A.-Freunde. Hier konnte ich mich bei ungezählten Meetings immer wieder vergleichen. Ich fand meine Spiegel.

So, wie man den Splitter im Auge des Freundes, aber den Balken nicht im eigenen Auge sieht, so bekämpfe ich meine alkoholische Blindheit, die nach den Worten unseres Freundes Dr. Lothar Schmidt zu den gefährlichsten Augenkrankheiten zählt.

Was waren nun meine Erkenntnisse?

Zunächst fand ich heraus, dass ich mich auf meinen Geist allein nicht mehr verlassen durfte, denn da war allerhand durcheinander. Besser war schon der Geist mehrerer nüchterner Menschen. Also begann ich auf den Rat meiner Freunde zu hören.

 Alkohol - ein Medikament?

Ich musste meinen Eigensinn bekämpfen, meine Rechthaberei.

    So erkannte ich langsam, dass nicht die anderen schuld waren, dass ich trank, sondern dass ich jedes Glas gegen mich selbst erhob. Bald erkannte ich auch, weshalb ich immer in den ungeeignetsten Augenblicken trank.

    Ich wollte anders sein, als ich wirklich war.

    Ich trank z. B. bevor ich einen Fremden oder gar eine Frau ansprechen konnte, weil ich mich dann sicherer fühlte.

    Ich trank vor jeder Autofahrt, oder einem Flug, weil ich mich dann sicherer fühlte.

    Ich trank vor jeder schwierigen Lebenslage, um sie sicherer zu bewältigen.

    Ich trank, weit mir Selbstsicherheit fehlte.

Dabei nahm ich den Alkohol als Medikament. Er war eine Droge, die mir das gab, was mir fehlte: Selbstsicherheit,

Eine Flasche und tausend Ausreden

Meine Unsicherheit war schließlich auch Ursache, dass ich schwierigere Ziele auf krummen Touren zu erreichen suchte. Da ich von meinem eigenen Können oft nicht sehr überzeugt war, täuschte ich meine Umwelt und war manchmal überrascht, wenn mir etwas gelang,  was ich nie für möglich gehalten hätte.

So betrog ich mich selbst durch Alkohol.

Zwar gaukelte mir der Alkohol vor, das er mein bester Freund sei, doch jedes Mal, wenn ich ihn durchschaute, war es schon zu spät und ich war wieder um ein Problem reicher.

Nun begann ich erst recht Theater zu spielen, zu lügen und tausend Ausreden zu finden,

Dadurch vorbaute ich mir natürlich den Weg zur Nüchternheit, denn nach dein Motto

"Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht."

dauerte es sehr lang, bis ich mich durch mein Verhalten wieder glaubwürdig werden ließ.

Wenn man mich z. B. fragte, was ich in X-Stadt mit einer blonden Frau zu einer Zeit zu besprechen hätte, in der ich normalerweise meiner Arbeit nachgehen müsste, stritt ich instinktiv ab, dort gewesen zu sein. Ich leugnete immer dann, wenn ich meinte, der andere könne die Wahrheit nicht vertragen.

Wohl weil ich sie selbst nicht vertrug.

Immer wenn mir jemand die Wahrheit sagte, griff ich zur Flasche, Doch damit ist eine Inventur nicht abgetan.

Ich versuchte meine Triebkräfte einzuschätzen und mit dem zu vergleichen, was unsere Gesellschaftsordnung normal nennt.

Ein geheimnisvoller oraler Trieb

Ich versuchte in harter Selbstprüfung herauszufinden, wo meine fehlgeleiteten Triebe Schaden anrichteten.

Den meisten Schaden hatte ich selbst.

So erkannte ich, dass mein Trinken auch auf Genusssucht abzielte. Es war ein geheimnisvoller oraler Trieb, den ich befriedigte. Oh - ich war am Anfang meines Durstes sehr wählerisch. Ich trank nicht jedes Glas, bloß weil der Inhalt Alkohol enthielt.

Diese Genusssucht trieb mich aber auch in eine übermäßige Abhängigkeit von Zigaretten. Ich musste einfach etwas im Mund haben. Ich musste mich oral betätigen.

Ich konnte nichts einteilen, ich musste es haben, solange es greifbar war.

Mein Triebleben war unbeherrscht. Oft ohne Maß und Ende.

Trinken, Rauchen und sexuelle Freuden wurden zur Leidenschaft, wobei ich bei letzterem oft an Selbstüberschätzung litt.

Es wird gut gewesen sein, dass der erschöpfte Körper dem unbeherrschten Drang einen selbsttätigen Riegel vorschob.

Und wenn ich dann mit meinem ganzen Katzenjammer allein war, versuchte ich es mit der Selbstrechtfertigung.

Habe ich nicht so getan, wie es mir zusteht?

War das nicht alles mein gutes Recht? Hatte ich nicht so viel nachzuholen, was mir dieser verdammte Krieg in meiner Jugend vorenthalten hat?

So war ich unbelehrbar und wurde zum Einzelgänger, dem kein Mensch Verständnis entgegenbringen wollte.

Ich bedauerte mich.

Ich fühlte mich vom Leben ungerecht behandelt, gedemütigt.

Natürlich hatte ICH immer recht

Doch das Wort DEMUT kannte ich nicht.

Was sollte ich auch damit?

Da ich keinen Glauben hatte, konnte ich auch mit der Demut nichts anfangen. Oder sollte ich mich anderen Menschen unterwerfen, zu Kreuze kriechen, degradieren?

Schließlich war ich doch wer.

Besser als die anderen.

Wer mit mir auskommen wollte, sollte gefälligst nach mir richten. Und mich anerkennen!

Denn das Recht war auf meiner Seite!

Ich hatte immer recht, wenn ich mit Alkohol am Steuer saß; wenn ich Vorfahrt haben wollte; wenn ich die Kurven schnitt; wenn ich gegen den Baum fuhr; wenn ich Schulden machte; wenn ich meine Fürsorgepflicht vernachlässigte; wenn "sie" mich bei einem Seitensprung ertappte; wenn ich fremdes Geld ausgab.

 Nur wer ehrlich bekennt hat eine Chance

Diese Inventur ist eine harte Sache und ich hätte sie allein nie geschafft.

Erst in den Meetings der Gruppe machte ich Fortschritte.

Ich hörte, wie andere Freunde furchtlos Inventur machten. Ich hörte, wie sie von ihren Fehlhaltungen erzählten und wie sie sich bemühten, ehrlich zuzugeben, was sie falsch gemacht hatten.             

Ich hörte von den sieben Todsünden der Alkoholiker.

Sie hießen für mich:

    Überheblichkeit,

    Zorn,

    Unmäßigkeit,

    Neid,

    Trägheit,

    Egoismus,

    Unkeuschheit.

Wie schwer ist es doch, diese Sünden zuzugeben.

Wie schwer ist es, einzugestehen, dass man auch heute noch mit diesen Fehlern behaftet ist und ständig hart arbeiten muss, dass sie nicht zum Durchbruch kommen.

Hochmut kommt vor dem Fall

Oder hast Du Dir nicht schon einmal eingebildet, dass Du mit Deiner längeren Nüchternheit schon wieder etwas Besseres wärest als jener arme Schlucker, der immer wieder Rückfälle hat und Deinen Ratschlägen nicht folgen kann?

Schädigt ein Rückfall das Ansehen der A.A.?

Kürzlich hörte ich sogar von einer Gruppe, die einem Alkoholiker den Besuch der Meetings verweigern wollte. weil er durch seine ewigen Rückfälle den Namen der A.A. in Misskredit bringe und für die anderen Gruppenmitglieder eine Gefahr darstelle!

Der Sprecher vergaß dabei, dass er selbst vor Jahren ewig mit sich und dem gepflegten Schlückchen laborierte, ehe er seine Umkehr fand.

Hast Du Dich nicht im verbissenen Zorn wiedergefunden, als man Deine Ansicht im letzten Meeting nicht teilte? Doch wer gab Dir denn das Recht, Menschen beurteilen zu wollen und den lieben Gott zu spielen?

Ist es nicht Unmäßigkeit, wenn Du Dich mit Nikotin aufpumpst und auch von anderen angenehmen Sachen nie genug siehst und den Hals nicht voll kriegst?

Erfasst Dich kein Neid, wenn Du die junge hübsche Frau Deines Freundes glücklich in seinem Arm erblickst?

Ist Deine gespielte Gelassenheit nicht oft schon Trägheit, die bald nach Faulheit stinkt?

Und schadet Dein Egoismus nicht manchmal anderen Menschen, wenn Du Dir Ellenbogenfreiheit verschaffst?

Ist es nicht Unkeuschheit, wenn Du nur daran denkst, Deine sexuellen Triebe zu befriedigen und den Partner zur Maschine degradierst?

A.A.-Meetings sind Medizin

Ich ertappe mich jedenfalls immer wieder dabei und ich weiß, dass ich noch sehr viel arbeiten muss, wenn ich mir keine neuen Probleme schaffen will.

Und das ist wohl das Entscheidende!

Es genügt nicht, dass man in gründlicher Inventur seine Fehlhaltungen erkennt, sondern man muss auch etwas dagegen tun.

Es gilt vordringlich, die Triebe in die richtigen Bahnen zu lenken und sie zu beherrschen.

Diesem Vorhaben stehe ich allein oft machtlos gegenüber, denn ich sehe meine Fehler immer erst dann, wenn ich sie begangen habe.

Nun kommt die Versuchung über mich, die Fehler zu vertuschen und wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Was kann ich dagegen tun?

Ich gehe regelmäßig zu den Meetings der A. A.

Befreiendes Sprechen löst manche Probleme

Dort wird mir geholfen, über meine Fehlhaltungen zu sprechen, oder ich erkenne mich an den Beispielen der Freunde. Ich werde irgendwie gezwungen nun auch über mich nachzudenken. Ich werde geimpft und komme nicht eher zur Ruhe. bis ich mit mir selbst ins Reine komme. Deshalb gehe ich zu den Meetings.

Ich brauche sie und bin dankbar dafür "Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung - und ich muss diesen Weg noch viele Schritte weitergehen."

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