Der dritte Schritt

Ich fasste den Entschluss, meinen Willen und mein Leben der Sorge Gottes,  so wie ich ihn verstehe anzuvertrauen.

Zuerst war es Kampf.

Ein nervenzermürbender Kampf um jede alkoholfreie Stunde. Und jeder "trockene" Tag war eine gewonnene Schlacht.

Das Selbstvertrauen stieg und hoffnungsvoll begann ich die Welt mit anderen Augen anzuschauen. Ich fand mich in einer ganz neuen Welt wieder. Die Blumen blühten anders. Die Vögel sangen anders. Und die Menschen waren anders.

Ich lebte auf und fühlte mich glücklich und zufrieden. Ich war wie neu geboren.

Man muss selbst durch diese Hölle gegangen sein, um zu ermessen, was es bedeutet, wenn man heute weiß, was man gestern getan und gesagt hat. Doch dieses Hochgefühl, diese Euphorie der ersten Nüchternheit, klang nach einigen Monaten langsam ab.

Mit dem nachlassenden Zwang zum Trinken verlor ich die Kampfkraft. Zwar blieb die ständige Wachsamkeit vor dem "ersten Schluck", doch bald ging es wieder zur Tagesordnung über. Leider musste. ich feststellen, dass auch diesem Rausch der ersten Nüchternheit ein erbärmlicher Katzenjammer folgte.

Je klarer meine Gedanken wurden, desto deutlicher erkannte ich den Trümmerhaufen meiner Vergangenheit.

Erst in der Nüchternheit übersieht man den Trümmerhaufen

Was habe ich doch alles zusammengeschlagen. Scherben,  nichts als Scherben.

Von enttäuschten Menschenherzen bis zu zerbeulten Autowracks. Überall Scherben, Schulden, Schatten.

Ein verlorener Krieg.

Gähnende Leere breitete sich in mir aus.

Selbst meine neuen Freunde konnten mir nicht weiterhelfen, Sollte mein ganzes Leben ein ewiges Auf und Ab sein? Ich war verzweifelt, doch nach Außen ließ ich mir nichts anmerken.

.... denn wie's da drin aussieht, geht niemand was an.

Meine Nächsten hatten mich nicht verstanden, als ich trank, viel weniger verstanden sie meine Nüchternheit. Für sie hatte ich aufgehört zu saufen und damit war der Fall erledigt.

Ich blieb allein. Ohne Flasche.

Ein befreundeter Arzt machte mir klar, dass die Flasche ein riesiges Loch in mir hinterlassen hatte. Ein unausgefülltes Loch in meiner Seele.

Er legte mir nahe, mich nun mit dem geistigen Teil des A.A.-Programms zu beschäftigen und bot mir seine Hilfestellung an.

Doch immer wieder lehnte ich mich auf.

Bin ich bisher nicht ganz gut ohne fremde Hilfe fertig geworden?.

Was soll das Gerede von Gott?

Schließlich hat weder meine Sauferei noch meine Nüchternheit irgend etwas mit meiner religiösen Einstellung zu tun.

Religiöse Einstellung? Hatte ich überhaupt eine?

Ich hatte keine Einstellung, weil ich keine Ahnung hatte. Keine Ahnung von dem, was andere Menschen glauben lässt. Ich hörte nur das, was irgend ein Pfarrer während meiner zufälligen Anwesenheit in der Kirche irgendwann von irgendeiner Kanzel sprach. Und diese Sprache verstand ich beim besten Willen nicht. Was sollen die Märchen von der jungfräulichen Empfängnis und den Heiligen drei Königen, die einem Stern nachgingen. Das war doch nichts für erwachsene Leute. Und weil mir diese Volksverdummung nicht gefiel, lehnte ich die Kirche und alles was damit zusammenhing rundweg ab. Ich meinte, die Kanzelredner wollten mir unbedingt weismachen, dass Gott im Himmel auf einer Wolke sitzt und bei allen Menschen die Fäden des Marionettenspiels zieht.

 Ohne Toleranz gibt es keinen Weg zur höheren Kraft.

Ich meinte, dass beten "BITTEN" heißt und ich mich mit jedem Gebet zum Bettler degradieren sollte.

Dass "BETEN" einer Zwiesprache mit einer höheren Kraft gleichzusetzen ist, lernte ich viel später.

Meine Einstellung begründete sich in der sturen Ablehnung aller Vorstellungen, die nicht in meinen Rahmen passten und für die in meinem Gehirnkasten keine Schublade frei war.

Ich war eigensinnig, voreingenommen und von Toleranz war keine Spur. Um nicht zuzugeben, dass ich Unrecht hatte, wich ich jeder Diskussion von vornherein aus.

Ich war nicht streitsüchtig, denn wozu streiten, wenn ich doch recht hatte.

Deshalb konnte man sich auch nur schwer mit mir unterhalten. Ich blieb still und zurückhaltend. Nur der Alkohol hätte meine Zunge lösen können. Doch dieses Problem hatte ich scheinbar überstanden.

Ich hatte mein Leben lang immer wieder bewiesen, dass ich nicht wie andere Menschen in der Gesellschaft trinken kann - und saufen wollte ich nicht mehr. 

Gott ist kein himmlisches Wesen

Zweieinhalb Jahre nach dem letzten Schluck hatte ich ein Erlebnis. In einer kleinen Gemeinde hörte ich zufällig einen Pfarrer, der offen und ehrlich von seinen eigenen Schwierigkeiten mit Gott sprach. Er sprach davon, dass wir vieles, was wir früher über Gott gelernt haben, vergessen müssen. Vielleicht sogar das Wort selbst. Er sagte: "Gott ist kein himmlisches Wesen, sondern eine höhere Kraft!"

Er sagte: "Gott sei keine Projektion ins jenseits, nicht irgendein Anderes über den Wolken, von dessen Vorhandensein wir uns zu überzeugen hätten, sondern Gott ist in uns. Gott ist der Grund unseres Seins."

Ich erinnere mich noch genau, was für eine Erleuchtung diese Worte damals für mich bedeuteten. In dieser Nacht tat ich etwas, was ich so intensiv weder vorher noch nachher wieder getan habe:

Ich betete

Ich lenkte meine Gedanken zu einer höheren Kraft, die der Grund meines Seins, meines Lebens, meines Geistes war und ich bekam Kontakt.

Ich fand Gott nicht in der Höhe, sondern in der Tiefe. In der Tiefe meines Herzens, dass ich verschlossen hatte. In der Tiefe meines Lebens.

Dieser Kontakt war so innig, dass mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllte.

Ich wusste nun, dass Gott da ist. In mir. In Dir. In jedem Lebewesen, In jedem Tier. In jeder Pflanze. Überall.

Und ich konnte mir vorstellen, dass Gott viele Namen hat. Jehova, Buddha, Konfuzius, Wotan, Zeus, Max, Paul, Maria, Hasso, Bär, Blume, Rose, Blatt .... Wie sagte doch mein Freund Dr. Lechler:

"Wer eine Rose beschreiben will, darf sie nicht in ihre chemischen Bestandteile zerlegen, sondern er muss sich ihrem Duft aussetzen."

Wer über Gott wissen will, muss sich ihm aussetzen, muss sich ihm öffnen.

Diesen dritten Schritt kann man nicht erzwingen. Man kann ihn weder lernen noch erkaufen. Ich betrachte ihn als geistiges Erlebnis, das zu seiner Zeit zu jedem Menschen kommt, der sein Herz geöffnet hält.

Man muss Geduld haben, jahrelang.

Dieses Erlebnis erfüllte mich unbeschreiblich.

Man sah es mir an.

Jeder muss sich seine eigene Vorstellung von Gott machen

Natürlich verfiel ich gleich in den nächsten Fehler. Ich meinte, dass ich nun alle Welt überzeugen müsse, was an der Sache mit Gott nach meiner Meinung nun wirklich dran ist. Ich konnte nicht verstehen, weshalb meine Freunde kalte Füße bekamen, wenn ich ihnen meinen neuen Glauben aufzudrängen versuchte. In typisch alkoholischer Denkweise wollte ich alle bekehren, die noch zweifelten. 


Ich war der Bischof - und schon wieder trocken besoffen.

Fast hätte ich mir meinen eigenen Glauben zerredet. Ich Narr! Heute weiß ich, dass meine Vorstellung von Deiner Vorstellung recht verschieden sein kann.

Ich weiß, dass alle Vorstellungen der höheren Kraft richtig sein können und das beweist mir ihre Größe.

Ich glaube an einen Gott, der größer ist, als wir selbst, Für mich ist es unbedeutend, dass ich diese höhere Kraft wie so viele meiner Mitmenschen Gott nenne. Was bedeutet schon eine von Menschen gegebene Bezeichnung. Was kümmert´s ihn?

Nachdem ich in meinem bisherigen Leben versucht hatte, stets meinen Willen durchzusetzen und immer wieder ins Bierglas gefallen war, gab ich endlich auf.

Ich war so weit

Nicht mein Wille geschehe, sondern Dein Wille geschehe

Ich erweiterte meine Kapitulation.

Nach meiner eigenen persönlichen Meinung sind die Schienen zu dem für mich bestimmten Lebensziel bereits fest verlegt.

Ich muss nur auf diesen Schienen fahren können.

Wenn ich entgleise, dann bin ich schlecht gefahren. Dann ist es meine Schuld. Dann darf ich midi nicht bei dem beschweren, der mir die Chance bot, das Ziel zu erreichen.

Früher meinte ich, dass ich die Gleise meines Lebensweges selbst verlegen kann. Dass ich die Weichen richtig stelle, dass ich den Fahrplan bestimme.

Heute weiß ich, dass mir diese Aufgaben nicht zustehen. Ich weiß aus der Erfahrung meiner Katastrophen, dass ich einem Fahrplan folgen muss, den eine höhere Dienststelle aufgestellt hat.

Natürlich ist es wichtig, dass ich dieser höheren Kraft vertraue. Aber weshalb soll ich zweifeln, wenn diese höhere Kraft den Ablauf der Gezeiten garantiert, wenn die Bahnen der Sonne und ihrer Planeten exakt verlaufen, wenn die Sternbilder seit Menschengedenken am nächtlichen Himmel stehen, wenn es Frühling wird, wenn mein Kind lacht und wenn ich heute nüchtern bin.

Immer wenn ich früher aus den Schienen sprang, war ich selbst dran schuld.

Ich wollte immer anders sein, als ich geboren wurde. Ich wollte Fahrdienstleiter sein, nicht Zugführer. Und so vergewaltige ich meine Lebenslokomotive.

Ich Narr!

Oder ist es, um ein anderes Beispiel zu nennen, normal, wenn ein Autofahrer statt mit Benzin und Öl mit reinem Alkohol fährt? Ich bin immer mit reinem Alkohol gefahren. Manchmal kam ich auch damit sehr schnell vorwärts doch bald war mein Lebensmotor defekt.

Vergewaltigung durch flüssige geistige Nahrung

Die Kolben hatten sich gefressen. Ich hatte das Schmieröl vergessen. Das richtige Gemisch.

Meine A.A.-Freunde stärkten meinen Glauben. Immer wieder durfte ich erleben, wie der eine oder der andere Freund plötzlich mit einem glücklichen zufriedenen Gesichtsausdruck zum Meeting erschienen und über seinen dritten Schritt berichtete.

Der eine war Atheist und fand seinen Glauben, als er einen hilferufenden Säufer ans trockene Land zog.

Der andere fand Gott in seiner eigenen Ohnmacht und Verzweiflung. Und ein dritter hatte sein Erlebnis, als er im Krankenhaus vor der Amputation seines Beines stand und aus dem Fenster schauend einen querschnittgelähmten jungen Menschen im Rollstuhl erblickte. Alle diese Freunde waren schon über ein Jahr nüchtern, als sie ihre Erlebnisse hatten.

So wurde mir klar, weshalb meine besoffenen Gebete kein Echo fanden. Ich hatte mich selbst entwürdigt.

Und neues Leben wächst aus den Ruinen

Wie konnte ich mich dem Duft der Rose aussetzen, wenn ich die Umgebung mit meinem eigenen Gestank verpestete?

Wie konnte ich die Kraft Gottes erkennen, wenn mein Blick getrübt war?

Nachdem ich nüchtern blieb, lernte ich wieder sehen und hören und begreifen.

Ich erlebte meine Wiedergeburt.

Wo waren diese intensiven Eindrücke in den vergangenen Jahren der Dunkelheit?

Ein neues Leben begann. Ich lernte wieder laufen.

Ich lernte meine Umwelt kennen.

Und ich lernte mit meinem kleinen Sohn, der diesbezüglich 2 Jahre älter ist als ich, beten und an Gott glauben.

Mein Sohn war mein Sponsor. Dieser Glauben hilft uns beiden. Er ist hier der Trost über ein zerbrochenes Spielzeug und da der Trost über ein zerbrochenes Leben.

Ein Entschluss, den keiner bereuen muss

Er ist aber auch die Triebfeder für weitere 24lStunden Nüchternheit. Denn nur nüchtern kann ich meinen Zug wieder auf den Gleisen rollen lassen.

Meinen Zug - mein Leben.

So fasste ich den Entschluss, meinen Willen und mein Leben der Sorge Gottes anzuvertrauen. Gott - so wie ich ihn verstehe. Ich fahre damit gut. Schon Jahre.

Bin ich ein Sklave Gottes?

Die Weichen sind richtig gestellt, denn ich habe schon wieder viel erreicht, was ich mir vorher nicht träumen ließ.

Das gibt mir Zuversicht.

Das stärkt mein Vertrauen.

Mein Leben ist ausgeglichen.

lch fahre das richtige Gemisch.

Manch einer wird mir vielleicht entgegnen, ich hätte mit diesem Entschluss meine Freiheit aufgegeben.

Statt Sklave des Alkohols wäre ich nun ein Sklave Gottes.

Was für ein Unsinn. Sind die Wegebenutzer Sklaven der Wegeerbauer?

A.A. - die Brücke zur höheren Kraft

Ermöglichen es uns nicht erst die Wege, dass wir uns frei bewegen können?

Erst wenn man seinen Weg gefunden hat, ist man frei und nicht mehr gefangen im Dschungel des alkoholischen Denkens. Selbstverständlich muss ich mir die Steine selbst aus dem Weg räumen, denn viele sind Trümmer meiner eigenen Vergangenheit.

Aber es geht vorwärts.

Ich habe ein Programm.

Ich betrachte die Meetings der Anonymen Alkoholiker als Meilensteine am Wegrand.

Wenn ich wenig Meetings besuche, komme ich nur langsam voran. Dabei kann man mich leicht aus dem Gleis werfen. Das ist nicht gut. Fahre ich jedoch zu schnell, übersehe ich die Kurve oder kann sie nicht richtig einschätzen und Fliehkräfte schleudern mich aus den Schienen.

Alles liegt an mir.

Ich bestimme das Tempo.

Das ist meine Freiheit.

Wenn Dir das nicht genügt, dann kannst Du ja anhalten, aussteigen, rückwärtslaufen.

Das ist Deine Freiheit.

12 Schritte zur geistigen Freiheit

Du kannst auch wieder Trinken, wenn Du meinst, dass das die wahre Freiheit ist.

Von mir aus, bis Dir der Schnaps zu den Ohren rausläuft. Das ist Deine Sache. Nicht die meine.

Ich habe mich entschlossen diesen Weg zu gehen. Den Weg der 12 Schritte der A.A..

Obwohl ich am Anfang ständig an diesem Fahrplan herumbastelte und ihn ändern wollte, haben mir meine Freunde, die länger nüchtern sind, bewiesen, dass es der kürzeste Weg zum Ziel ist.

Nur das Tempo bestimme ich.

Das ist meine Freiheit.

Auf meinem Weg

 mit Gott, so wie ich ihn verstehe.

zum vierten Schritt